Der Verrat
ich musste dreimal ins Bad. Für diesen Zweck nutzte ich das Waschbecken im Badezimmer und ließ das Wasser dabei laufen, um zu vermeiden, dass die Klospülung vielleicht noch lief, wenn Crawley hereinkam, und er dadurch gewarnt wurde. Die Spülung einfach nicht zu betätigen kam aus ähnlichen Gründen nicht in Frage.
Um acht Uhr, kurz nach einer meiner raschen Stippvisiten ins Bad, hörte ich, wie ein Schlüssel ins Schloss gesteckt wurde. Ich stand lautlos auf und huschte in die Abstellkammer. Ich ließ die Tür einen Spalt offen und schaltete das Licht aus, die Betäubungspistole in der rechten Hand.
Einen Moment später hörte ich, wie die Wohnungstür aufging. Das Licht wurde eingeschaltet. Leise Schritte auf dem Teppich. Da war er, ging an mir vorbei. Ich bemerkte das lockige, weizenblonde Haar, die schmalen Gesichtszüge, die ich von Dox’ Fotos her kannte, während er durchs Wohnzimmer ging. Er warf die Post auf den Couchtisch. Ich lächelte. Ich hätte das Zeug zum Hellseher.
Er zog einen olivefarbenen Trenchcoat aus, nahm eine Zeitschrift und marschierte an mir vorbei ins Schlafzimmer. Eine Minute verging, dann eine weitere. Und noch eine.
Seine Rückkehr ließ länger auf sich warten, als ich gedacht hatte. Und dann begriff ich: Er saß auf dem Klo und las wahrscheinlich dabei die Zeitschrift. Ich hatte eigentlich warten wollen, bis er ins Wohnzimmer zurückkam, aber die Gelegenheit war einfach zu günstig, um sie ungenutzt verstreichen zu lassen. Ich hob die übrig gebliebene Plastikfolie und das Isolierband auf und schlich mich aus der Kammer.
Vorsichtig schob ich mich ins Schlafzimmer und stellte mich direkt neben die offene Tür zum Bad. Ich sah den Trenchcoat, einen Anzug, ein Hemd und eine Krawatte auf dem Bett liegen. Ich legte die Plastikfolie und das Isolierband auf den Teppichboden.
Eine weitere Minute verstrich. Ich hörte ihn aufstehen. Die Toilettenspülung rauschte. Ich hielt die Betäubungspistole in der rechten Hand in Hüfthöhe, den Daumen auf dem Auslöser. Ich atmete flach durch den Mund.
Ich hörte Schritte auf den Fliesen, dann sah ich ihn im Profil, wie er aus dem Bad kam. Er trug nur ein weißes T-Shirt und passende Boxershorts. Ich machte einen Schritt nach vorn. Sein Kopf begann ruckartig, sich in meine Richtung zu drehen, und sein Körper zuckte verblüfft und verängstigt zurück. Ich rammte ihm das Gerät gegen den Leib und drückte auf den Auslöser. Seine Zähne klackten aufeinander, und er prallte rückwärts gegen den Türrahmen.
Nach vier oder fünf Sekunden, lange genug, um ganz sicher zu sein, dass sein zentrales Nervensystem gründlich gestört war, ließ ich den Auslöser los, fing Crawley auf und ließ ihn zu Boden gleiten. Er grunzte wie jemand, der einen Volltreffer auf den Solarplexus abbekommen hat. Seine Augen blinzelten hektisch.
Ich breitete die Plastikfolie auf dem Boden aus und rollte ihn darauf. Anschließend drückte ich ihm die Arme seitlich an den Körper, wickelte die Folie um ihn herum und klebte sie mit Isolierband fest, zuerst an den Hand-, dann an den Fußgelenken. Er erholte sich allmählich, also verpasste ich ihm noch einen Stromstoß mit der Betäubungspistole. Als die Wirkung erneut nachließ, hatte ich ihn inzwischen fast wie eine Mumie mit Plastik und Isolierband umwickelt. Er konnte praktisch nur noch Kopf und Zehen bewegen.
Ich holte ein Kissen von seinem Bett und schob es ihm unter den Hinterkopf, einerseits, damit er mich besser sehen konnte, andererseits damit er sich keine Prellungen zuzog, falls er anfing zu zucken. Meine Sorge galt dabei weniger seinem Wohlbefinden als vielmehr den möglichen Ergebnissen einer gerichtsmedizinischen Obduktion.
Ich hockte mich neben ihn und beobachtete seine Augen. Zuerst blinzelten sie und rollten in den Höhlen. Dann wurden sie ruhiger und fokussierten sich. Schließlich weiteten sie sich in panischem Begreifen. Er versuchte, sich zu bewegen, und als er merkte, dass das nicht ging, fing er an zu hyperventilieren.
»Ganz ruhig«, sagte ich mit leiser und beruhigender Stimme zu ihm. »Ich will Ihnen nicht wehtun.« Was ja eigentlich auch stimmte.
Er hyperventilierte weiter. »Aber … wieso haben Sie mich dann gefesselt?«, keuchte er.
Eine berechtigte Frage. Ich beschloss, offen mit ihm zu sein, zumindest teilweise. »Sie haben Recht«, antwortete ich. »Ich muss mich korrigieren. Ich werde Ihnen nicht wehtun, wenn Sie mir sagen, was ich wissen will.«
Er schluckte trocken und nickte.
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