Der Verrat
würde.
Als vier Minuten vorüber waren, trat ich hinaus in die Lobby. Die alte Frau war verschwunden. Vielleicht hatte jemand sie vorn abgeholt. Die Studentin am Empfang blickte von ihrem Buch auf und sagte: »Tschüss.« Ich winkte und ging nach draußen Richtung Carport, bog dann links ab auf den Parkplatz, der außerhalb ihres Gesichtsfeldes lag.
Zurück im Auto verstaute ich Perücke, Brille und Baseballmütze im Handschuhfach, zog den Reißverschluss der Windjacke hoch und streifte die Hirschlederhandschuhe über. Ich griff mir die Aktentasche und machte mich wieder auf den Weg zum Haus, diesmal jedoch zum Hintereingang. Ich ging dicht an der Wand entlang, wollte so schnell wie möglich den Erfassungsbereich der Kamera hinter mir lassen, und schnappte mir im Gehen einen Wischmop und einen Müllcontainer. Als ich die Tür erreichte, beugte ich mich weit vor, als wäre der Container unheimlich schwer und kaum von der Stelle zu schieben. Gleichzeitig hielt ich den Mop so, dass er mein Gesicht verdeckte, das ich aber für alle Fälle beim Schieben gesenkt hielt.
Ich zog die Tür auf, trat ohne Zögern ein und blieb dann abwartend stehen. Falls der Studentin am Empfang irgendwas aufgefallen war und sie nachsehen kam, würde sie bald hier sein. Für den Fall wollte ich die Tür offen halten, um möglichst schnell verschwinden zu können.
Angespannt zählte ich dreißig Sekunden ab, dann atmete ich langsam aus. Okay. Wahrscheinlich hatte sie die Bewegung auf dem Monitor gar nicht wahrgenommen. Vielleicht war ich ja übervorsichtig.
Als ob das überhaupt möglich wäre.
Ich schloss und verriegelte die Tür, stellte den Mop und den Container gleich daneben und ging zu der Treppe neben den Fahrstühlen. Kurz darauf trat ich auf den Flur im achten Stock.
Ich nahm die Flugblätter vom JICC aus der Aktentasche, ging bis zu Apartment 811 und klopfte an. Falls jemand die Tür aufmachte, würde ich in japanisch eingefärbtem, gebrochenem Englisch die spannenden kulturellen Aktivitäten anpreisen, die das JICC für den Winter geplant hatte, und zur Steigerung meiner Glaubwürdigkeit eines der Flugblätter da lassen. Dann würde ich mich mit einer Verneigung verabschieden und mir einen anderen Weg überlegen, um an Crawley ranzukommen.
Aber es machte niemand auf. Ich klingelte. Wieder nichts.
Ich wandte mich um und klebte eines der Flugblätter über den Spion in der Tür gegenüber von Crawleys Wohnung. Es war mitten am Tag, und das ganze Haus war sehr still, weil die meisten Bewohner bei der Arbeit waren. Dennoch, ich wollte nicht das Risiko eingehen, dass jemand just in der einen Minute durch den Spion schaute, die ich brauchen würde, um in die Wohnung zu gelangen.
Die Tür hatte zwei Schlösser – das am Türknauf und ein Zylinderschloss darüber. Das am Türknauf war ein Kinderspiel. Das Zylinderschloss stammte von der Firma Schlage, ein herkömmliches Modell mit fünf Stiften, nicht besonders kompliziert.
Ich steckte die Flugblätter zurück in die Aktentasche und holte meinen Schlüsselbund heraus. Wie immer hatte ich etliche selbstgemachte schlanke Metallstifte daran, die sich schon oft bei den meisten herkömmlichen und einfachen Schlössern prima bewährt hatten. Als nächstes nahm ich den Plastikfilzstift, den ich im Drugstore gekauft hatte. Ich brach die Metallklammer von der Kappe, schob sie in das Schloss am Türknauf und drehte sie ein bisschen, bis kein Spiel mehr im Schloss war. Dann steckte ich einen der Stifte hinein und stocherte ein bisschen. Es dauerte keine zehn Sekunden, und das Schloss war auf.
Für das Zylinderschloss brauchte ich etwas länger, aber nicht viel. Übung macht den Meister. Man kann sich sämtliche Bücher und Lehrfilme über das Knacken von Schlössern anschaffen – und davon gibt es jede Menge –, aber wenn man wirklich gut werden will, dann legt man sich auch die entsprechende Schließtechnik zu: Buntbart, Rundzylinder, Hebel-, Stift-, Scheiben-, Rohrzylinder, einfach alles. Man bastelt sich sein eigenes Werkzeug, weil das Spezialwerkzeug nur an Schlosser und eingetragene Schlüsseldienste abgegeben wird. Man stellt echte Einsatzbedingungen nach: Handschuhe, Dunkelheit, Zeitlimit, vorherige körperliche Anstrengung, um den Puls hochzutreiben und die Hände leicht zittrig zu machen. Es ist viel Arbeit. Aber es lohnt sich, wenn’s drauf ankommt.
Als ich das Schloss geknackt hatte, warf ich den Schlüsselbund zurück in die Tasche und öffnete die Tür. »Hallo?«, rief
Weitere Kostenlose Bücher