Der Verrat
sein.
Eine letzte Überprüfung der Abstellkammer. Alles war, wie es sein sollte, einschließlich Crawley. Er war nach vorn geneigt, die Wäscheleine verhinderte, dass er aufs Gesicht fiel, und seine Fingerknöchel berührten rechts und links den Teppich. Na ja, es gibt schlimmere Todesarten, dachte ich. Und ich habe schon viele gesehen.
Normalerweise arbeite ich unter erheblichem Zeitdruck und habe nach Erledigung eines Auftrags keine Möglichkeit, mich dreifach abzusichern, und schon gar nicht die Zeit für tiefschürfende Gedanken. Diesmal war das anders.
Ich betrachtete Crawleys leblose Gestalt und dachte an all das Sterben, das ich schon gesehen hatte, an all die Toten, die auf mein Konto gingen, angefangen mit jenem unglückseligen Vietcong in der Nähe des Flusses Xe Kong vor vielen, vielen Jahren. Ich fragte mich, was der arme Bursche wohl heute machen würde, wenn unsere Wege sich nie gekreuzt hätten.
Wahrscheinlich wäre er trotzdem tot, dachte ich. Ein Unfall oder eine Krankheit oder irgendein anderer hätte ihn getötet.
Ja, vielleicht. Aber vielleicht hätte er auch weitergelebt und wäre heute mit einer hübschen Vietnamesin verheiratet, einer Kämpferin, so wie er einer gewesen war, und die beiden hätten drei oder vier Kinder, die ihre Eltern für die Opfer bewunderten, die sie während des Krieges gebracht hatten. Vielleicht wäre sein erstes Enkelkind kürzlich zur Welt gekommen. Vielleicht hätte er vor Freude geweint, das Kind seines Kindes in den Armen, und hätte gedacht, wie eigenartig das Leben doch ist, wie kostbar.
Vielleicht.
Ich seufzte und betrachtete Crawleys seltsam geneigten Körper. Er sah entspannt aus, irgendwie gelöst, wie das oft bei Leichen der Fall ist.
In Industrienationen leben die meisten Menschen ihr Leben, ohne je eine Leiche zu Gesicht zu bekommen, und wenn doch, dann ist das meist bei einer Aufbahrung, wo es den entsprechenden Rahmen gibt und man nur die friedliche, rotwangige Fassade sieht, die ein kunstfertiger Bestatter gezaubert hat. Wenn Mom und Dad sterben, kümmern sich irgendwelche Fremden in einem Pflegeheim um sie. Die Kinder müssen nicht dabei sein, wenn die Eltern sterben. Sie müssen sie nicht mal hinterher sehen. Sie bekommen nur spät nachts einen »Wir bedauern, Ihnen mitteilen zu müssen« -Anruf von der Heimverwaltung, für die derlei Telefonate reine Routine sind, genau wie für einen Hausbesitzer das Rausstellen der Mülltonne am Wochenanfang. Das Bestattungsunternehmen holt den Leichnam ab. Der Friedhof erledigt die Beerdigung. Wenn man nicht in dem Metier arbeitet, kann es sein, dass man nie im Leben zu sehen bekommt, wie ein anderer Mensch aus dem Leben tritt.
Die Menschen wissen nicht, wie das ist. Sie wissen nicht, dass die Kiefermuskulatur erschlafft, dass die Haut schlagartig wächsern und gelb wird, dass sich die Augenlider leicht bewegen lassen, wenn man sie behutsam schließt. Sie wissen nichts von dem entsetzlichen Geruch von Blut und Eingeweiden, oder dass man den Gestank nie mehr los wird, auch wenn man ihn sich von der Haut spült. Sie wissen so vieles nicht. Genauso wenig haben sie eine Ahnung, wie die Tiere geschlachtet werden, die als saftiges Fleisch auf ihren Tellern landen. Auch davon wollen sie nichts mitbekommen. Und es wird alles dafür getan, es ihnen zu ersparen.
Manchmal kann ich vergessen, dass dieses Wissen mich von anderen unterscheidet, dass es mich von denjenigen trennt, die nicht mit dieser Bürde belastet sind. Meistens jedoch gelingt mir das nicht. Midori hat es gleich von Anfang an gespürt. Aber ich glaube, erst später hat sie wirklich verstanden, was der Grund war.
Ja, manchmal kann ich vergessen, aber nie sehr lange. Meistens betrachte ich die Unschuldigen um mich herum mit Verachtung. Oder Abscheu. Oder Neid, wenn ich ehrlich zu mir bin. Immer jedoch als ein Fremder. Immer aus einer Distanz heraus, die nichts mit Geographie zu tun hat.
Ich ging zur Wohnungstür und spähte durch den Spion. Draußen war alles leer.
Ich trat auf den Gang und achtete darauf, dass das Türschloss hinter mir einrastete. Ich verließ das Haus durch den Vordereingang, nur ein ganz normaler Bewohner auf dem Weg zu einem abendlichen Termin. Am Empfang saß jemand Neues. Selbst wenn die Studentin noch da gewesen wäre, sie hätte mich nicht erkannt. Die leichte Verkleidung, die ich zuvor getragen hatte, fehlte natürlich. Aber es war nicht nur das, ich war jetzt ein anderer Mensch. Heute Nachmittag war ich ein schüchterner
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