Der Verrat
da sein. Ich kann genauso wenig dorthin zurück wie du. Du bist intelligent, und du hast noch viel Schönes vor dir. Sei heute nicht dumm. Das hier ist kein Spiel.«
Ich wandte mich ab und ging. Mehr konnte ich nicht tun. Entweder sie verhielt sich jetzt taktisch klug oder eben nicht.
Ich ging zur U-Bahnstation Central. Ich wusste nicht, ob sie bewaffnet waren, und so, wie sie sich verteilt hatten, konnte ich nicht darauf hoffen, alle drei auszuschalten und unbeschadet davonzukommen. Außerdem gab es in der Umgebung der Station immer einige Streifenpolizisten. Die Polizeipräsenz würde meine Freunde vorläufig ebenso zurückhalten, wie sie mich zurückhielt. Ich beschloss, sie auf eine Sightseeingtour mitzunehmen, irgendwohin, wo wir uns ungestört miteinander amüsieren konnten.
Das würde knifflig werden. Mein Instinkt sagte mir, dass sie nur auf den richtigen Ort zum Zuschlagen warteten. Irgendwo, wo es für gewöhnlich menschenleer war oder aber ein großes Gedränge herrschte. Ein Ort, wo sie nach vollbrachter Tat verschwinden konnten, ohne festgehalten zu werden und ohne Zeugen, die sie später genau beschreiben könnten. Bis sie so einen Ort gefunden hatten, würden sie sich wahrscheinlich in Zurückhaltung üben. Sollten sie allerdings das Gefühl bekommen, dass ich ihnen entwischen oder sie an der Nase herumführen könnte, würden sie sich vielleicht sagen, es reicht, und etwas Voreiliges tun.
Ich fuhr mit der Rolltreppe hinunter in die U-Bahnstation und schlug ein flottes Tempo an, damit sie mich – sollte ich ihre Taktik doch falsch eingeschätzt haben – nicht so leicht überholen konnten. In den Gängen der U-Bahn wimmelte es von Überwachungskameras, und dieses eine Mal war ich wirklich froh darüber. Wenn Achmed & Co. nicht unbedingt darauf erpicht waren, sich bei dem, was sie vorhatten, filmen zu lassen, würden sie sich noch ein Weilchen gedulden müssen. Und mehr als ein Weilchen brauchte ich nicht.
Das hieß natürlich, falls sie die Kameras überhaupt bemerkt hatten. Einfach vorauszusetzen, dass der Gegner intelligent ist, kann genauso gefährlich sein, wie ihn für dumm zu halten.
Ein Zug der Tsuen-Wan-Linie hielt, und ich stieg ein. Meine Freunde stiegen am hinteren Ende in denselben Wagen. Ich hatte also zumindest bis jetzt Recht behalten. Sie hielten sich zurück, wollten mir noch nicht zu dicht auf die Pelle rücken, wussten noch nicht, dass ich sie entdeckt hatte.
Ich beschloss, sie nach Sham Shui Po zu führen, einen lebendigen Distrikt in West-Kowloon und eines der vielen Viertel, die ich in der Vorbereitung auf Belghazi gründlich erkundet hatte, um für Umstände wie diesen gewisse Notfallpläne zur Hand zu haben. Unter günstigeren Bedingungen hätten wir uns die zweitausend Jahre alten Grabkammern im Lei Cheng Uk Han Tomb Museum ansehen können oder den uralten Tin Hau Tempel. Oder wir hätten auf der »Modestraße« Cheung Sha Wan Road, wo die Bekleidungshersteller ihre Ware auf der Straße verkaufen, auf Schnäppchenjagd gehen können. Oder wir hätten auf den Flohmärkten Elektronikgeräte und illegal gebrannte CDs und DVDs ergattern können. Heute jedoch wollte ich ihnen etwas Ausgefalleneres bieten.
An der Station Sham Shui Po stieg ich aus, ging durch das Drehkreuz und nahm den Ausgang C1. Im Vergleich zu dem Menschengewimmel hier auf der Straße vor der U-Bahnstation war mir Tokio regelrecht entvölkert in Erinnerung. Wie ein Menschenstrom, der durch eine Schlucht rauscht, erstreckte sich die Straße vor mir zwischen altersschwachen Hochhäusern und geduckten Bürogebäuden hindurch. Autos bewegten sich ruckartig über verstopfte Kreuzungen, Fußgänger manövrierten um sie herum. Wäsche und Klimaanlagen hingen an rußgeschwärzten Fenstern, Hochspannungsleitungen waren schlaff darüber gespannt. Schilder mit chinesischen Schriftzeichen klammerten sich an die Häuser wie Flechten an Bäume, ihr Anstrich war rostzerfressen, die Farben grau verblasst. Hier lag ein ausgezehrter Mann ohne Hemd schlafend oder bewusstlos in einem Liegestuhl, dort stand ein untersetzteres Exemplar an einen Laternenpfahl gelehnt und schnitt sich mit lässiger Eleganz die Fingernägel. Ein undurchdringlicher Lärmteppich deckte alles wie mit Nebel zu: Menschen, die in Handys brüllten, Straßenhändler, die lauthals ihr Ware feil boten, Autos und Hupen und Presslufthämmer. Ein paar Tauben flogen von einem Dach zum nächsten und schienen vor lauter Belustigung über das Getümmel unter ihnen
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