Der Verrat
unbedeutend. Die Kanzlei und die Karriere lösen sich in nichts auf, während die Sekunden verstreichen und dir bewusst wird, dass dies der letzte Tag deines Lebens sein könnte.
»Wie steht’s mit dir?« fragte ich ihn. »Wie kommst du damit zurecht?«
Die Kanzlei und die Karriere treten für ein paar Stunden in den Hintergrund.
»Wir haben am Dienstag einen Prozess begonnen. Auf den haben wir uns vorbereitet, als Mister hereinplatzte.
Wir konnten den Richter nicht um einen neuen Termin bitten, weil unser Mandant schon vier Jahre lang auf diesen Prozess gewartet hatte. Und es war ja niemand verletzt. Nicht körperlich jedenfalls. Also haben wir Gas gegeben, uns in den Prozess gestürzt und ganze Arbeit geleistet. Der Prozess hat uns gerettet.«
Natürlich. Arbeit ist Therapie - bei Drake & Sweeney ist sie sogar Erlösung. Ich hätte ihn am liebsten angeschrien, denn noch vor zwei Wochen hätte ich wahrscheinlich dasselbe gesagt.
»Gut«, sagte ich. Wie schön. »Dann geht es dir also gut?«
»Ja.« Er war Prozessanwalt, ein Krieger mit einer Teflonhaut. Außerdem hatte er drei Kinder, und darum kam der Luxus eines Karriereknicks mit dreißigtausend Dollar im Jahr für ihn nicht in Betracht.
Plötzlich tickte in seinem Kopf wieder die Stoppuhr. Wir schüttelten uns die Hand, umarmten uns und gaben uns die üblichen Versprechen, miteinander in Verbindung zu bleiben.
Ich ließ die Tür geschlossen, damit ich den Aktendeckel anstarren und entscheiden konnte, was ich tun sollte. Ich stellte eine Reihe von Hypothesen auf. Erstens: Die Schlüssel passten. Zweitens: Es war keine Falle; ich hatte keine Feinde und würde ohnehin in wenigen Tagen aus der Kanzlei ausgeschieden sein. Drittens: Die Akte befand sich tatsächlich in Chances Büro, im Aktenschrank unter dem Fenster. Viertens: Es war möglich, an sie heranzukommen, ohne erwischt zu werden. Fünftens: Sie konnte innerhalb kurzer Zeit kopiert werden. Sechstens: Ich konnte sie zurücklegen, so dass niemand Verdacht schöpfen würde. Siebtens, und das war der entscheidende Punkt: Die Akte enthielt tatsächlich Beweise für dunkle Machenschaften. Das alles notierte ich auf einem Blatt Papier. Die Entwendung einer Akte war ein Grund für eine fristlose Kündigung, aber das war mir egal. Dasselbe galt natürlich, wenn ich mit einem Schlüssel, den ich von Rechts wegen gar nicht haben durfte, in Chances Büro angetroffen wurde.
Die eigentliche Schwierigkeit war das Kopieren. Da es in der Kanzlei keine Akte gab, die weniger als drei Zentimeter dick war, würde ich, wenn ich über die gesamte Akte verfügen wollte, wahrscheinlich hundert Seiten kopieren müssen. Ich würde, für alle sichtbar, minutenlang am Kopiergerät stehen müssen. Das war zu gefährlich. Kopien machten nicht Anwälte, sondern Sekretärinnen und Gehilfen.
Die Geräte waren hochmodern und kompliziert und warteten nur darauf, einen Papierstau zu produzieren, kaum dass ich auf einen Knopf gedrückt hatte.
Außerdem waren sie kodiert: Man musste eine bestimmte Ziffernfolge eingeben, damit die Kopien einem Klienten in Rechnung gestellt werden konnten. Und zu allem Überfluss waren sie von allen Seiten zugänglich - mir fiel kein einziges Kopiergerät ein, das in einer Ecke stand. Vielleicht gab es in einer anderen Abteilung der Kanzlei eines, aber dort würde meine Anwesenheit auffallen.
Ich würde also mit der Akte das Gebäude verlassen müssen, und das grenzte, auch wenn ich sie nicht stahl, sondern nur auslieh, an eine strafbare Handlung.
Um vier ging ich mit aufgekrempelten Ärmeln und einem dicken Aktenbündel durch die Immobilienabteilung, als hätte ich dort etwas Wichtiges zu tun. Hector war nicht an seinem Tisch. Braden Chance war in seinem Büro. Er telefonierte, und die Tür stand einen Spaltbreit offen, so dass ich seine belfernde Stimme hörte.
Eine Sekretärin lächelte mich an. Ich sah keine Überwachungskameras. In einigen Etagen gab es sie, in anderen nicht. Wem würde es schon einfallen, ausgerechnet in der Immobilienabteilung gegen die Sicherheitsbestimmungen zu verstoßen?
Um fünf Uhr verließ ich die Kanzlei. In einem Feinkostgeschäft kaufte ich ein paar Sandwiches, dann fuhr ich zu meinem neuen Büro.
Meine Teilhaber waren noch da und erwarteten mich. Sofia lächelte sogar, als sie mir die Hand schüttelte, wenn auch nur für einen Augenblick.
»Willkommen an Bord«, sagte Abraham ernst, als wäre ich dabei, ein sinkendes Schiff zu betreten. Mordecai wies mit einer
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