Der Verrat
weichen Knien ging ich zur Tür, schaltete das Licht aus und lauschte auf ihre Stimmen. Dann saß ich zehn Minuten lang auf Chances teurem Ledersofa. Wenn ich gesehen wurde, wie ich das Büro mit leeren Händen verließ, würde nichts geschehen. Morgen war ohnehin mein letzter Tag. Allerdings hätte ich dann auch nicht die Akte.
Und wenn mich jemand mit der Akte hinausgehen sah? Sobald man mich zur Rede stellte, wäre ich geliefert.
Ich dachte verzweifelt nach, und in jedem Szenario, das ich entwarf, wurde ich geschnappt. Geduld, ermahnte ich mich. Sie werden nicht lange bleiben. Nach Basketball ging es um Mädchen. Die beiden klangen nicht, als wären sie verheiratet. Wahrscheinlich waren es Jurastudenten aus Georgetown, die hier nachts als Hilfskräfte arbeiteten. Bald waren ihre Stimmen verklungen.
Ich schloss den Aktenschrank im Dunkeln ab und nahm die Akte. Fünf Minuten, sechs, sieben, acht. Ich öffnete leise die Tür und spähte durch den Spalt den Gang hinauf und hinunter. Niemand. Ich huschte hinaus, an Hectors Tisch vorbei, und ging in zügigem Tempo in Richtung Empfangsbereich, wobei ich mich bemühte, einen gelassenen Eindruck zu machen.
»He!« rief jemand hinter mir. Während ich um eine Ecke bog, wandte ich mich rasch um und sah, dass ein Mann mir folgte. Die nächste Tür führte in eine kleine Bibliothek. Ich schlüpfte hinein; zu meinem Glück war es hier dunkel.
Zwischen den Bücherregalen hindurch ging ich zur gegenüberliegenden Wand, wo ich eine zweite Tür entdeckte. Ich öffnete sie und sah über einer Tür am Ende eines kurzen Gangs ein beleuchtetes Schild mit der Aufschrift »Ausgang«. Ich riss sie auf und befand mich im Treppenhaus. Da ich schneller hinunter- als hinauflaufen konnte, rannte ich in Richtung Erdgeschoss, obgleich mein Büro zwei Etagen höher lag. Wenn der Mann mich durch Zufall erkannt hatte, würde er mich vielleicht dort suchen.
Außer Atem kam ich im Erdgeschoß an. Ich trug keine Jacke und wollte nicht gesehen werden, am wenigsten von dem Mann des Sicherheitsdienstes, der den Aufzug bewachte, damit nicht noch weitere Obdachlose hereinkamen. Ich ging zu einem Seiteneingang - demselben, den Polly und ich benutzt hatten, um nicht den Reportern über den Weg zu laufen. Es war eiskalt, und es nieselte, als ich zu meinem Wagen rannte.
Die Gedanken eines dilettantischen Ersttäters. Es war eine Dummheit. Eine gigantische Dummheit. Hatte man mich erkannt? Niemand hatte mich Chances Büro verlassen sehen. Niemand wusste, dass ich im Besitz einer Akte war, die mir nicht gehörte.
Ich hätte nicht davonrennen sollen. Ich hätte stehen bleiben und mich mit ihm unterhalten sollen, als wäre alles in schönster Ordnung, und wenn er die Akte hätte sehen wollen, hätte ich sein Ansinnen empört von mir weisen und ihn wegschicken sollen. Wahrscheinlich war es bloß eine der Hilfskräfte gewesen, deren Unterhaltung ich zuvor mitangehört hatte.
Aber warum hatte er gerufen? Wenn er mich nicht kannte, warum hatte er dann versucht, mich vom anderen Ende des Ganges aus anzuhalten? Ich fuhr auf die Massachusetts Avenue - ich hatte es eilig, die Akte zu kopieren und irgendwie wieder an ihren Platz zu stellen. Ich hatte schon des öfteren die Nacht durchgearbeitet, und wenn ich bis drei Uhr warten musste, um in Chances Büro zu schleichen, dann würde ich eben warten.
Ich entspannte mich ein wenig. Die Heizung lief auf vollen Touren.
Ich konnte nicht wissen, dass eine Polizeiaktion schiefgegangen und ein Polizist angeschossen worden war. Ich konnte nicht wissen, dass der Jaguar eines Dealers die 18th Street entlang raste. An der Ampel an der New Hampshire Avenue hatte ich grünes Licht, aber die Kerle, die auf den Polizisten geschossen hatten, kümmerten sich nicht um die Straßenverkehrsordnung. Der Jaguar war nur ein verschwommenes Etwas zu meiner Linken. Im nächsten Augenblick nahm mir der Airbag die Sicht.
Als ich zu mir kam, drückte die Fahrertür in meine linke Schulter. Schwarze Gesichter starrten mich durch das zersplitterte Fenster an. Ich hörte Sirenen, dann wurde wieder alles verschwommen.
Der eine Sanitäter löste meinen Sicherheitsgurt, und gemeinsam zogen sie mich über die Mittelkonsole und durch die Beifahrertür. »Ich sehe gar kein Blut«, sagte jemand.
»Können Sie gehen?« fragte einer der Sanitäter. Meine Schulter und Rippen schmerzten. Ich versuchte zu stehen, aber meine Beine gaben unter mir nach.
»Alles in Ordnung«, sagte ich und setzte mich auf
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