Der Verrat
warf sich auf den keuchenden hokan , der sich nicht mehr rührte.
»Ihr seid festgenommen«, stieß Hirata keuchend hervor.
Nachdem Schatzminister Nitta seppuku begangen hatte, ohne dass ihm seine Schuld oder Unschuld nachgewiesen worden war, durfte keiner von Sanos anderen Verdächtigen entkommen. Selbst wenn sich Fujios Unschuld am Mord des Shōgun-Erben herausstellte, war und blieb er immer noch der Hauptverdächtige im Mord an der Frau, die sie in seinem Sommerhaus gefunden hatten.
»Es ist eine schlechte Angewohnheit von mir, dass ich immer davonlaufe, wenn jemand mich ergreifen will«, sagte Fujio mit einem gequälten Lächeln. »Aber es war einen Versuch wert.«
Obwohl Sano in der Regel mit Gefolgsleuten reiste, die ihn unterstützten und seinen hohen Rang hervorhoben, zog er es vor, das Stadtgefängnis zu Edo, wie stets, allein aufzusuchen.
Dieser Ort – ein düsterer, befestigter Kerker, von verfallenen Steinmauern, Wachtürmen und einem breiten Wassergraben umschlossen – beherrschte die Elendsviertel im Nordosten von Nihonbashi. Hier wurden Gefangene gefoltert, bis sie gestanden. Überführte Häftlinge warteten in schmutzige Verliesen auf ihre Hinrichtung. In dem Gefängnis war auch die Leichenhalle Edos untergebracht, wohin die Toten der Stadt gebracht wurden, egal, ob die Betreffenden nun eines natürlichen oder unnatürlichen Todes gestorben waren. Dr. Ito, Leiter und Aufseher der Leichenhalle und ein alter Freund Sanos, unterstützte den sōsakan-sama bei dessen Ermittlungen oft mit medizinischen Gutachten. Da die Untersuchung von Leichen gegen das Gesetz verstieß, musste Dr. Ito im Geheimen arbeiten. Deshalb achtete Sano stets darauf, dass so wenige Menschen wie möglich über seinen Besuch in der Leichenhalle Bescheid wussten.
Dr. Ito begrüßte ihn an der Tür zur Leichenhalle, einem niedrigen Gebäude, von dessen Wänden der Putz bröckelte. »Es ist mir eine Freude, Euch zu sehen«, sagte Ito.
Der ungefähr siebzigjährige Arzt mit dem schlohweißen Haar, das ihm wie Schnee in sein kluges, zerfurchtes Gesicht fiel, trug das blaue Übergewand seines Berufsstandes. Doch Ito zählte selbst zu den Häftlingen. Vor vielen Jahren hatte man ihn dabei ertappt, wie er sich mit verbotenen fremdländischen Wissenschaften beschäftigt hatte, die er von holländischen Händlern über dunkle Kanäle erlernt hatte. Der bakufu hatte auf den üblichen Urteilsspruch – die Verbannung – verzichtet und ihn dazu verurteilt, für den Rest seines Lebens in der Leichenhalle von Edo zu arbeiten. Hier setzte Dr. Ito seine wissenschaftlichen Experimente heimlich fort, ohne dass der bakufu offiziell Notiz davon nahm.
»Mir wäre ein angenehmerer Anlass jedoch lieber gewesen als ein zweiter Mord«, fügte Ito hinzu.
»Mir auch«, erwiderte Sano. »Ich würde Euch auch nicht darum bitten, eine zweite Leiche zu untersuchen, wenn ich eine andere Wahl hätte.«
Der Kampf gegen die Sekte der Schwarzen Lotusblüte hatte auch von Ito seinen Tribut gefordert, obwohl der Arzt in der blutigen Nacht nicht im Tempel gewesen war, als mehr als siebenhundert Menschen starben. Ihre Leichen waren unverzüglich in einem Massengrab außerhalb Edos bestattet worden. Viele Nonnen und Priester der Sekte waren jedoch an Verletzungen gestorben oder hatten im Gefängnis Selbstmord verübt, und Dr. Ito hatte ihre Leichen für die Beisetzung hergerichtet. Sein Entsetzen über das Blutbad der Schwarzen Lotusblüte jedoch hatte ihn bei seinen Forschungen behindert – dem einzigen Trost, der seine Gefangenschaft erträglich machte –, und die spirituelle Verunreinigung durch so viele Tote hatte seine Gesundheit geschwächt.
Dr. Ito lächelte freundlich und winkte Sano in die Leichenhalle. »Die gerechte Strafe für einen Mörder hat Vorrang vor persönlichen Gefühlen.«
Die Leichenhalle war ein großer Raum mit Steinwannen, in denen die Toten gewaschen wurden, mit Schränken, in denen die Instrumente und Geräte aufbewahrt wurden, einem Podium mit Papieren und Büchern sowie drei hüfthohen Tischen. Auf einem der Tische lag eine Gestalt, die mit einem weißen Tuch bedeckt war. Daneben stand Dr. Itos Helfer, Mura, ein Mann von etwa fünfzig Jahren mit buschigem grauem Haar und einem hageren, intelligenten Gesicht.
»Wir können beginnen, Mura- san «, sagte Dr. Ito.
Mura war ein eta , ein Rechtloser aus der niedersten gesellschaftlichen Schicht, aus der die Aufseher, Folterknechte, Leichenwäscher und Henker des
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