Der Verrat
Ermittlungen weiterführe, muss ich die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass die tote Frau Wisterie ist – und dass Wisterie eine Mörderin war.«
Dr. Ito nickte verständnisvoll. »Wenn Schatzminister Nitta unschuldig war, sind Wisterie, Fujio und Momoko die einzigen Verdächtigen. Wisterie könnte Fürst Mitsuyoshi erstochen haben.«
»Mit anderen Worten – meine ehemalige Geliebte hat den Erben des Shōgun ermordet.« Sano war speiübel. »Und es gibt noch ein anderes Problem. Meine Gemahlin weiß nichts davon. Ich habe ihr nie von meiner Affäre mit Wisterie erzählt, weil ich es für bedeutungslos hielt. Wenn Reiko mir aber weiterhin bei den Ermittlungen hilft, könnte sie herausfinden, dass ich Wisterie damals aus der Prostitution freigekauft habe. Sie könnte glauben, ich hätte es ihr nicht erzählt, weil ich etwas zu verheimlichen habe.«
Von Angst erfüllt, umklammerte Sano die Gitterstäbe des Fensters. Er hatte niemals damit gerechnet, dass seine kleine Auslassung nun zu einer großen Gefahr für seine ohnehin gefährdete Ehe heranwachsen könnte. »Ich wünschte, ich hätte es Reiko von Anfang an erzählt. Was soll ich jetzt tun?«
»Ein kleiner Kieselstein, der einen Berg hinunterrollt, kann einen Erdrutsch auslösen«, sagte Dr. Ito. »Ihr solltet es Eurer Gemahlin so schnell wie möglich beichten, Sano -san . Je länger Ihr wartet, desto größer werden Eure Probleme.«
22.
R
eiko wurde in einer Sänfte durch das Tor des Beamtenviertels im Palast zu Edo getragen.
Sanos Verhalten in der letzten Nacht verwirrte sie ebenso wie die Tatsache, dass er das Haus verlassen hatte, bevor sie erwacht war. War der zweite Mordfall zu viel für ihn? Reiko machte sich Sorgen um seinen Gemütszustand. Es bestand die Gefahr, dass der Shōgun ihn verdammte, weil er sich in den Prozess gegen Schatzminister Nitta eingemischt hatte und weil es ihm nicht gelungen war, den Mordfall zu lösen.
Auch um Midori sorgte sich Reiko. Midori war heute früh bei ihr erschienen und hatte ihr mitgeteilt, sie habe eine Nachricht von ihrem Vater erhalten, der sie aufforderte, zu ihm zu kommen. Nun war Midori unterwegs zu Fürst Nius Anwesen, während Reiko sich zu den Frauengemächern im Palast zu Edo begab, wo ihr Vetter Eri als Hofbeamter Dienst tat.
Eri, der über den Klatsch und Tratsch im Palast bestens Bescheid wusste, konnte vielleicht jenen Samurai benennen, der Wisterie vor einigen Jahren aus der Prostitution freigekauft hatte. Für Reiko war es wichtiger denn je, diesen Mann zu finden. Falls Wisterie noch lebte, wusste er vielleicht, wo sie sich aufhielt. Wenn es sich bei der Leiche im Sommerhaus des hokan um Kurtisane Wisterie handelte, konnte er vielleicht wichtige Informationen zu dem Mord liefern.
Der Gedanke an Wisterie verstärkte Reikos Sorgen um Sano. Wahrscheinlich wollte er nicht, dass sie Ermittlungen über das Vorleben von Kurtisane Wisterie anstellte. Gab es irgendetwas, das sie nicht erfahren sollte?
Plötzlich hörte Reiko sich nähernde Pferdehufe und Schritte. Die Sänfte ruckte, als die Wachen, Träger und Dienstmädchen stehen blieben. Reiko streckte den Kopf aus dem Fenster, um zu sehen, wer oder was den Durchgang versperrte. Sie sah einen Wachtrupp und mehrere Bedienstete, die eine große schwarze Sänfte eskortierten, aus deren Fenster zwei Köpfe schauten. Einer gehörte Fürstin Yanagisawa, der andere ihrer Tochter Kikuko.
Das Mädchen lächelte und winkte. Als Reiko zurückwinkte und sich verneigte, murmelte Fürstin Yanagisawa ihren Gefolgsleuten irgendetwas zu. Der Hauptmann des Wachtrupps wandte sich an Reiko. »Die Gemahlin des Kammerherrn wünscht, der Gemahlin des sōsakan-sama einen Besuch abzustatten«, sagte er.
Reiko wunderte sich, dass Fürstin Yanagisawa ihr schon wieder einen Besuch machen wollte. Obwohl sie ihre Ermittlungen nur ungern aufschieben wollte, hatte sie keine andere Wahl, als der Bitte zu entsprechen. »Bringt mich nach Hause«, befahl sie den Trägern.
Fürstin Yanagisawa und Kikuko knieten Reiko in der Empfangshalle gegenüber. Die Fürstin lehnte Reikos Angebot einer Erfrischung höflich ab.
»Wir wollen nicht lange verweilen«, sagte die Fürstin. Sie schien erregt zu sein, ihre eingefallenen Wangen waren gerötet. Auf ihrem Schoß lag ein kleines Bündel, das in dunkelblaue, mit weißen Blättern bedruckte Seide eingepackt war. »Es tut mir Leid, dass ich Euch auf Eurem Weg gestört habe.«
»Oh, das macht nichts«, erwiderte Reiko. »Ich
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