Der Verrat
Gefängnisses rekrutiert wurden. Diese Berufe, die von den eta seit Generationen ausgeübt wurden – wozu auch das Schlachten sowie das Gerben von Leder gehörte –, hatten mit dem Tod zu tun und machten die eta deshalb zu spirituell Verunreinigten. Die meisten Bewohner Edos gingen den eta aus dem Weg, die in Elendsvierteln hausten, doch Dr. Ito achtete Mura als Freund und Helfer, der die schweren körperlichen Arbeiten bei Itos Studien übernahm.
Als Sano auf den Tisch zuging, musste er den Wunsch bekämpfen davonzulaufen. Er hatte sich von dem Schrecken und der Übelkeit, die der Leichenfund bei ihm ausgelöst hatten, noch immer nicht erholt. Und der Gedanke, den Leichnam einer Frau zu untersuchen, mit der er ein intimes Verhältnis gehabt hatte, flößte ihm Angst und Entsetzen ein.
Mura zog das weiße Tuch langsam von der Leiche. Zuerst wurden die Füße sichtbar. Die Totenstarre war bereits eingetreten, und der Leichnam lag mit steifen Gliedern rücklings auf dem Tisch. Die Leiche trug keine Schuhe, die Haut war blauweiß, und unter den zerschnittenen Fußsohlen klebte Dreck. Als Sanos Blick auf die Kleidung fiel, entdeckte er rotbraune Flecke auf dem Kimono mit dem lila und grünen Blumenmuster. Die Fingernägel der Frau waren abgebrochen und mit getrocknetem Blut überzogen. Mura deckte die obere Körperhälfte ab und entblößte die entsetzliche Verstümmelung – dort, wo eigentlich der Kopf hingehörte. Der süßliche Geruch von verwestem Fleisch stieg Sano in die Nase. Ihm drehte sich der Magen um.
»Wo habt Ihr sie gefunden?«, fragte Dr. Ito.
Sano berichtete ausführlich über die Ermittlungen, erklärte dem Arzt, wie er die Leiche gefunden hatte, und beschrieb den Fundort.
»Lag die Tote in einer Blutlache?«, wollte Dr. Ito wissen.
Das Bild des Raumes, in dem die Leiche gefunden worden war, hatte sich Sano ins Gedächtnis gebrannt. »Nein. Auf dem Boden, an den Wänden, auf dem Futon und auf dem Moskitonetz waren nur einige Blutspritzer.«
Sano wusste, dass Reiko sich Sorgen um ihn machte. Gestern Abend hatte er all seine Kraft gebraucht, um das Chaos seiner Gefühle zu bekämpfen. Seine Verschlossenheit würde eine neuerliche Kluft zwischen ihm und Reiko aufreißen, doch Sano konnte ihr nicht sagen, warum der Mord ihm so sehr zu schaffen machte, ohne ihr die Wahrheit über sein einstiges Verhältnis mit Wisterie zu gestehen. Das hätte alles nur noch schlimmer gemacht.
»Damit wir genau feststellen können, was geschehen ist, müssen wir den Rest des Leichnams untersuchen.« Dr. Ito winkte Mura zu sich.
Der eta nahm ein Messer, schnitt den Kimono der Frau auf, entfernte den weißen Unterkimono und entblößte den nackten Körper. Die blasse Haut auf dem Unterleib, den Brüsten und dem Brustkorb war mit großen bläulichen Flecken übersät. Der Nacken, die Arme und die Hüften wiesen kleinere Flecke auf. Sano presste die Lippen zusammen und atmete tief ein. Dr. Ito murmelte vor Entsetzen unverständliche Worte, und sogar Mura, den so schnell nichts aus der Ruhe brachte, war schockiert.
»Dreht sie auf die Seite, Mura- san «, bat Dr. Ito.
Mura folgte dem Befehl. Die Männer betrachteten schweigend die blauen Flecke auf dem Rücken und dem Gesäß der Toten. Dr. Ito ging um den Tisch herum und schaute voller Mitleid auf die Leiche. »Die Brutalität der Tat und die Kraft, die dabei angewendet wurde, deuten eher auf einen männlichen als einen weiblichen Täter hin. Die Blutergüsse stammen von Fausthieben. Die kleineren Wunden auf den Armen und dem Hals sind Fingerabdrücke.«
»Sie hat sich gewehrt«, stellte Sano fest, der auf die Hände der Toten blickte. »Ihre Fingernägel sind abgebrochen und blutig, weil sie sich an ihrem Angreifer festgekrallt hat.«
Im Geiste sah er das Blut auf dem Boden und den Wänden, sah die großen und die kleinen Fuß- und Handabdrücke – vom Opfer und vom Mörder. Falls es sich um Wisteries Leiche handelte, welche Schuld trug sie dann an ihrem Tod?
»Seht Euch die dunklen Blutergüsse auf dem Rücken an. Nachdem sie gefallen ist, hat der Mörder sie mit Fußtritten traktiert«, sagte Dr. Ito. »Vermutlich starb sie an inneren Blutungen.«
»Dann hat der Mörder sie also totgeschlagen.«
Sano wünschte sich mehr denn je, er hätte sich herauszufinden bemüht, was nach seiner Affäre mit Wisterie aus ihr geworden war. Und das nicht nur, weil er ihr vielleicht das Leben hätte retten können. Sein Verantwortungsgefühl war so stark, dass er
Weitere Kostenlose Bücher