Der Verrat
es Sano niemals zutraute – sie konnte nicht sicher sein, ob er nicht tatsächlich so etwas getan hatte, denn sie beide hatten sich auseinander gelebt, und Sano hatte sich ihr immer weniger anvertraut. Und wenn er sie mit Wisterie betrogen hatte – warum sollte er dann nicht auch Masahiro verraten?
Reiko packte das Tagebuch mit krampfhaftem Griff und ließ den Blick durchs Gemach schweifen, das seine Vertrautheit verloren hatte und dem plötzlich etwas Befremdliches anhaftete. Im Geiste fügte Reiko der Beweiskette neue Glieder hinzu.
Sano hatte ihr etwas verschwiegen.
Er wollte nicht, dass sie Erkundigungen über Wisterie einzog.
Er hatte sich eigentümlich verhalten, nachdem er die Leiche entdeckt hatte – als wäre jemand gestorben, den er gekannt und gemocht hatte.
Reiko hatte schon eine leise Ahnung gehabt, dass es zwischen ihm und der vermissten Kurtisane eine Beziehung gegeben hatte.
Mit einem Schrei, aus dem Schmerz und Wut sprachen, schleuderte sie das Buch durch das Zimmer. Es fiel hinter einen vergoldeten Wandschirm. Doch sie konnte das Tagebuch einfach nicht vergessen. Außerdem konnte sie den Gedanken nicht verdrängen, dass dieses Tagebuch eine große Bedrohung für Sano darstellte, wie Fürstin Yanagisawa behauptet hatte – und das nicht nur, weil es seine Ehe gefährdete. Reiko fühlte sich ihrer Angst und ihrem Elend hilflos ausgeliefert.
Bis Sano nach Hause kam, konnte sie nichts tun.
24.
V
erschiedene Nachforschungen führten Sano von der Leichenhalle in Edo zum Palast, ins Beamtenviertel und den Bezirk des daimyō und schließlich nach Yoshiwara. Der Wächter am Tor schlug zwei Holzklötze gegeneinander, um Mitternacht und damit die Sperrstunde zu verkünden. In den Straßen brannten noch die Laternen. Ausrufer lockten Kunden in die Teehäuser und Bordelle. Noch immer schlenderten Samurai und gemeine Bürger umher und verschlangen die Kurtisanen mit Blicken; die Prostituierten saßen hinter vergitterten Fenstern und versuchten, die Kunden durch anzügliche Gesten und Rufe herbeizulocken. Fröhliche Musik hallte durch die Nacht. Eine kleine Gruppe Männer, die keine Lust verspürte, die ganze Nacht in Yoshiwara zu verbringen, strömte aus einer kleinen Tür ins Freie. Unter ihnen befanden sich Sano, Hirata und acht Ermittler, von denen sie begleitet wurden. Als sie über den dunklen Damm in Richtung Edo ritten, tauschten Sano und Hirata Neuigkeiten aus.
»Die Frau, die wir in Fujios Haus gefunden haben, wurde totgeschlagen«, sagte Sano. »Es kann Wisterie gewesen sein, aber auch eine andere, die eine ähnliche Figur und Größe besaß.« Dabei war er sich mittlerweile ziemlich sicher, dass es sich bei der Toten tatsächlich um die Kurtisane handelte.
»Fujio kann nicht der Mörder sein.« Hirata berichtete, dass er den hokan verhört und festgenommen hatte. »Ich habe heute mit seiner Frau, deren Eltern, seinen Freunden und seiner Geliebten gesprochen. Sie haben bestätigt, dass Fujio zur fraglichen Zeit mit ihnen zusammen war. Wenn sie nicht lügen, kann er den Mord in dem Sommerhaus nicht begangen haben.«
»Vielleicht hat Fujio auch den Fürsten Mitsuyoshi nicht getötet. Schatzminister Nitta könnte der Täter gewesen sein, und ein Dritter könnte Wisterie ermordet haben.« Sano konnte nicht glauben, dass zwischen den beiden Morden kein Zusammenhang bestand. Dennoch durfte er diese Möglichkeit nicht außer Acht lassen.
»Ich habe die Aussagen überprüft, die der Älteste Staatsrat und andere hohe Beamte gemacht haben«, sagte er. »Anderenfalls wäre es schwierig gewesen, mehr über Mitsuyoshis Leben zu erfahren. Ich habe gehört, dass Fürst Dakuemon und ein paar andere Männer in der Nacht, in der Mitsuyoshi ermordet wurde, in Yoshiwara gewesen sind. Einige dieser Männer sind ehemalige Freier von Kurtisane Wisterie. Jetzt müssen wir herausfinden, wo sie in der Zeit zwischen Wisteries Verschwinden und dem Auffinden der Leiche gewesen sind.«
Das wäre kein Problem gewesen, hätte es den Befehl des Shōgun nicht gegeben, keine unmittelbaren Ermittlungen über Mitsuyoshi anzustellen. Sano bedauerte, dass er die neuen Verdächtigen nicht direkt befragen konnte und stattdessen Spione und Informanten einsetzen musste, was eine mühselige und zeitraubende Angelegenheit war.
»Wenn Fujio oder ein anderer bakufu -Beamter nicht der Mörder ist, bleibt immer noch Wisteries rätselhafter Liebhaber aus Hokkaido«, sagte Hirata. »Aber niemand in Yoshiwara scheint etwas über
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