Der Verrat
sie überlesen hatte, weil sie zu zornig, verletzt und aufgeregt gewesen war. Das Gefühlschaos in ihrem Innern führte sie an den Rand einer Ohnmacht. Benommen drehte sie sich zu Sano um.
»Ja«, flüsterte sie, verhaltene Erleichterung in der Stimme.
Ihr Argwohn und sein Geständnis hatten Sano in einen Fremden verwandelt, der des Ehebruchs und Verrats fähig war. Jetzt aber erkannte Reiko ihren vertrauten Gemahl wieder. Ein zuversichtliches Lächeln vertrieb die Sorgen aus ihrem Gesicht.
»Ja, ich erinnere mich … Der Shōgun hatte dir in dem Monat Urlaub gegeben«, sagte sie. »Du hast mit Masahiro -chan und mir eine Pilgerreise gemacht …« Der Tempel, den sie besucht hatten, war eine Dreitagesreise von Edo entfernt. Der Urlaub hatte insgesamt zehn Tage gedauert, deshalb konnte Sano in der Zeit des Vollmonds unmöglich bei Wisterie in Nihonbashi gewesen sein.
»Nachdem du Masahiro- chan ins Bett gebracht hattest, sind wir beide in den Garten gegangen und haben uns den Mond angesehen«, sagte Sano.
»Und wir haben uns dort geliebt.« Die Tränen, die Reiko zurückgehalten hatte, rannen nun über ihre Wangen. Sie weinte vor Glück, weil eine kleine, unrichtige Darstellung bewies, dass dieses so genannte Tagebuch eine ausgeklügelte Lügengeschichte war. Reiko schämte sich, dass sie es nicht sofort als solche erkannt hatte. »Verzeihst du mir, dass ich an dir gezweifelt habe?«
»Wenn du mir verzeihst, dass ich ein Geheimnis vor dir hatte, das ich dir hätte anvertrauen müssen«, erwiderte Sano.
Er sah so aufrichtig und betrübt aus, dass Reikos Zorn gänzlich verflog. Sie wusste nicht mehr, ob sie auf ihn zugegangen war oder er auf sie, als sie einander schließlich in den Armen lagen. Das Beben ihres schluchzenden Körpers übertrug sich auf Sano, und die Feuchtigkeit auf ihren Wangen hätte von ihren oder seinen Tränen herrühren können. Sanos Hände streichelten sie mit einer Zärtlichkeit, die Wisterie niemals von ihm erfahren hatte. Reikos Körper reagierte mit einer Woge des Verlangens. Ihr Atem wurde schneller und Sanos Umarmung leidenschaftlicher.
Schließlich aber lösten sie sich voneinander. Sie hatten jetzt keine Zeit, sich zu lieben, weil wichtige Dinge besprochen werden mussten. Reiko erhitzte einen Kessel mit Sake. Dann knieten sie und Sano mit dem Tagebuch nieder und stellten das Tablett mit den Trinkschalen auf den Boden.
»Wenn Wisterie das Tagebuch nicht geschrieben hat, wer war es dann?«, sagte Reiko, die einen Schluck heißen Reisschnaps trank.
Mit grimmiger Miene nahm Sano eine Schale entgegen. »Mir fällt nur eine Person ein, der daran gelegen sein könnte, mich mit dem Mord in Verbindung zu bringen und mich als einen Verräter hinzustellen.«
» Yoriki Hoshina?«
Sano nickte. »Hoshina weiß von der Existenz des Tagebuchs. Und er weiß auch, wie es aussieht, denn er hat gehört, wie Wisteries kamuro es mir beschrieben hat. Vielleicht hat er sich eine eigene Version ausgedacht und diese dem Kammerherrn Yanagisawa anonym zukommen lassen. Anschließend brauchte er nur noch abzuwarten.«
»Damit der Kammerherr das Tagebuch gegen dich verwendet?« Reiko wärmte ihre Hände an der Sakeschale und trank noch einen Schluck. »Und was ist mit dem Waffenstillstand zwischen dir und Kammerherr Yanagisawa?«
»Der Waffenstillstand würde mich in diesem Fall nicht schützen.« Sano trank seine Schale leer und schenkte sich nach. »Auch wenn Yanagisawa den Frieden zwischen uns erhalten will, könnte er nicht über die Tatsache hinwegsehen, dass ich den Shōgun beleidigt und mich gegen ihn verschworen habe oder Gründe hatte, Fürst Mitsuyoshi zu töten. Er müsste dem Shōgun das Tagebuch aushändigen, ob er mich nun für schuldig hält oder nicht.«
Reiko verstand seine Argumentation. »Wenn er einen möglichen Verräter schützt, wird er selbst zum Verräter.«
»Er könnte zögern zu handeln, wenn er der Einzige wäre, der davon wüsste«, sagte Sano, »aber das ist nicht der Fall. Wer immer dieses Tagebuch geschrieben hat, weiß es ebenfalls. Und diese Person weiß auch, dass Yanagisawa das Buch bekommen hat. Kammerherr Yanagisawa und ich führen zwar keinen Krieg mehr gegeneinander, aber Freunde sind wir auch nicht. Yanagisawa würde das Tagebuch niemals verstecken und sich um meinetwillen in Gefahr begeben. Und Hoshina weiß, wie sein Liebhaber denkt. Er hat nach einer Möglichkeit gesucht, mich anzugreifen.« Sano blickte auf das Tagebuch. »Es muss sein Werk sein.«
Trotz
Weitere Kostenlose Bücher