Der Verrat
Geliebte gewesen zu sein und dass es ihren Seelen bestimmt sei, nun erneut zueinander zu finden, und diese spirituelle Harmonie hatte zur Liebe und der rein körperlichen Lust beigetragen.
Sich zu verlieben war einfach, eine Heirat aber konnte Probleme mit sich bringen, da die Familien mit der Ehe einverstanden sein mussten. Deshalb hoffte Hirata inständig, das Treffen zwischen seiner Familie und der Midoris würde zu einem guten Ende führen. Nun aber sah er seine Teilnahme am miai gefährdet.
Doch er verscheuchte seine Sorgen und konzentrierte sich auf den aktuellen Fall und die Frage, wie Wisterie aus dem Vergnügungsviertel entkommen sein könnte. Ob sie Yoshiwara tot oder lebend verlassen hatte – jemand musste eine Möglichkeit gefunden haben, die Kurtisane durchs Tor hinauszuschmuggeln.
»Die letzte Zeugin, die Wisterie gesehen hat, war ihre yarite , und zwar nach Anbruch der Stunde des Ebers«, sagte Hirata zu den Posten. »Wer hat in dieser Zeitspanne – von der Stunde des Ebers bis zur Entdeckung des ermordeten Fürsten Mitsuyoshi – Yoshiwara verlassen?«
Die beiden Wachposten blickten plötzlich angespannt. »Niemand«, sagte der Hagere schließlich. »Die Tore werden um Mitternacht verschlossen. Dann darf keiner mehr aus Yoshiwara heraus. Wer sich dann noch innerhalb der Mauern aufhält, muss bis zum Morgen warten. So verlangt es das Gesetz.«
»Aber letzte Nacht ist nicht jeder Besucher in Yoshiwara geblieben, habe ich Recht?«, sagte Hirata, denn er wusste, dass man sich mit genügend Geld auch nach Beginn der Ausgangssperre einen Weg aus Yoshiwara hinaus erkaufen konnte. Als er sah, wie die Gesichter der Wachposten einen ängstlichen Ausdruck annahmen, fügte er hinzu: »Falls ihr Bestechungsgelder genommen habt, werde ich euch nicht dafür bestrafen – vorausgesetzt, ihr sagt mir, wer Yoshiwara heute nach Mitternacht verlassen hat. Also?«
Die Männer tauschten misstrauische Blicke; dann sagte der Hagere widerwillig: »Da waren Kinue, der Ölhändler, und einige von seinen Dienern und Freunden …«
Hirata wusste, dass Kinue ein gut gehendes Geschäft im Händlerviertel Nihonbashi besaß. »Wer sonst noch?«, fragte er.
»Einige Angehörige des Mori-Klans mit ihren Leibwächtern«, sagte der Untersetzte.
Hirata horchte auf. Die Mori waren ein mächtiger Verbrecherklan, dessen Mitglieder ihre Finger in jedem schmutzigen Geschäft hatten.
»Und Nitta Monzaemon, der Schatzminister«, sagte der hagere Wachposten, »mit seinen Gefolgsleuten.«
Hirata runzelte die Stirn. Der Gedanke, hohe bakufu -Beamte wie Schatzminister Nitta könnten mit dem Mord an Fürst Mitsuyoshi und Wisteries Verschwinden zu tun haben, beunruhigte ihn. »Wie waren diese Leute unterwegs?«, fragte er. »Zu Fuß? Zu Pferde?«
»Kaufmann Kinue und seine Begleiter sind zu Fuß zur Fähre am Fluss gegangen, von wo sie auch gekommen waren«, sagte der untersetzte Wachposten, »während der Mori-Klan über den Damm davongeritten ist.«
Hirata nickte. Das Gesetz erlaubte es nur den Samurai, zu Pferde zu reisen; deshalb hatten Kaufmann Kinue und dessen Gruppe zu Fuß gehen müssen. Die Mori hingegen waren rōnin , herrenlose Samurai, und hatten deshalb das Recht, zu reiten. Doch es war unwahrscheinlich, dass Wisterie eine der beiden Gruppen begleitet hatte: Frauen ritten nicht. Hätte Wisterie es dennoch getan, hätte sie riskiert, von patrouillierenden Soldaten bemerkt zu werden. Und eine einzelne Frau, die eine Gruppe Männer zu Fuß begleitet, wäre ebenfalls aufgefallen. Andererseits … eine verzweifelte Kurtisane auf der Flucht wäre ein solches Wagnis vielleicht eingegangen, sofern sie Komplizen fand, die bereit waren, ihr zu helfen.
»Schatzminister Nitta ist ebenfalls durchs Tor geritten«, sagte der hagere Wachposten. »Doch draußen wartete eine Sänfte auf ihn.«
Erregung erfasste Hirata, ließ sein Blut schneller durch die Adern strömen und wärmte seinen durchgefrorenen Körper. Die Sänfte des Schatzministers konnte sich als die bisher vielversprechendste Spur erweisen. Egal wie Wisterie aus Yoshiwara hinausgekommen war – in der Sänfte hätte sie schnell und sicher verschwinden und an einen Ort reisen können, den nur der Schatzminister und dessen Vertraute kannten. Hirata dankte den Wachen und stapfte durch die wirbelnden Schneeflocken davon, um Sano zu suchen.
Die zwanzig anderen Gäste, die am Abend zuvor an der Feier im ageya Owariya teilgenommen hatten, waren hochrangige Angehörige des
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