Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Verrat

Der Verrat

Titel: Der Verrat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rowland
Vom Netzwerk:
bittere Resignation. In einem der Häuser war ein heftiger Streit zwischen den Bewohnerinnen entbrannt; sie keiften einander an wie Katzen, die sich um Futter balgten. In einem schäbigen Bordell lag ein Mädchen stöhnend auf einem Futon, während eine Dienstmagd ihr das Blut zwischen den Beinen abwusch. Der Gestank von Schweiß, Urin und schmutzigen Leibern drang bis auf die Straßen.
    Für Hirata verlor Yoshiwara auch den letzten Reiz. Und wohin er auch kam, wohin er auch sah, erblickte er die Männer von Polizeikommandeur Hoshina, die in demselben Auftrag unterwegs waren wie Hirata: Kurtisane Wisterie zu suchen, die jedoch nirgends zu finden war. Seit ihrem feierlichen Zug zum ageya Owariya am Abend zuvor hatte niemand mehr sie gesehen. Wie es schien, war Wisterie spurlos verschwunden – und mit ihr das Tagebuch.
    Ohne große Hoffnung auf Erfolg machte Hirata sich auf den Weg die Nakanochō hinauf. Das Tageslicht schwand; es wurde dunkler und kälter im Vergnügungsviertel. Wieder hatte Schneefall eingesetzt; an den Mauerfüßen der Gebäude bildeten sich Verwehungen. Vom scharfen Wind gepeitschte Schneeflocken stachen Hirata in den Augen und wirbelten funkelnd in den gelben Lichtbahnen, die aus den Fenstern und Türen fielen. Die Straßen waren menschenleer, sah man von den Polizeistreifen ab, denn sämtliche Besucher des Vergnügungsviertels waren seit der Entdeckung des Mordes hinter den Toren Yoshiwaras eingeschlossen und hatten daher Zuflucht in den Gebäuden gesucht. Hirata näherte sich dem Tor, vor dem zwei Wachposten auf und ab schritten, in Mäntel mit Kapuzen gehüllt. Als sie Hirata erblickten, blieben sie stehen und verbeugten sich.
    »Hattet ihr gestern Abend Wachdienst?«, fragte Hirata die Posten.
    Der eine war hager, mit derben, kantigen Zügen. Der andere war massig und besaß ein dunkles, rundes Gesicht. Beide nickten auf Hiratas Frage.
    »Ist Kurtisane Wisterie durch dieses Tor gegangen?«, wollte Hirata wissen.
    Der untersetzte Posten lachte abfällig. »Die Kurtisane möchte ich sehen, die sich an uns vorbeischleichen kann! Einige versuchen es, aber uns ist noch keine entwischt. Manchmal verkleiden sie sich als Dienerinnen, aber das nutzt ihnen nichts. Wir kennen hier jeden. Uns kann niemand hereinlegen.«
    »Es hat sogar schon Frauen gegeben, die Lastenträger bestochen haben, sie durchs Tor zu schmuggeln – in Kisten oder Fässern versteckt«, sagte der hagere Wachposten. »Aber wir durchsuchen jedes Behältnis, bevor es Yoshiwara verlässt. Die Frauen wissen, dass sie kaum eine Chance haben, zu entkommen. Trotzdem versuchen sie es immer wieder.«
    Angesichts der Schreckensbilder, die er heute gesehen hatte, konnte Hirata den Wunsch der Frauen nach Flucht nur zu gut verstehen. »Aber Wisterie befindet sich nicht mehr in Yoshiwara«, sagte er, »also muss sie irgendwie herausgekommen sein.«
    Zusammen mit den Wächtern blickte er zur schneebedeckten Krone der Mauer hinauf, die das Vergnügungsviertel umschloss. Die Mauer besaß eine glatt verputzte Oberfläche und war nur durch enge Gassen von den Gebäuden im Innern des Viertels getrennt. »Wisterie hätte auf ein Dach steigen, von dort auf die Mauerkrone springen, auf der anderen Seite hinunterklettern und den Wassergraben überwinden müssen«, erklärte der hagere Wachposten. »Das hat noch keine Frau geschafft.«
    »Was meint ihr denn, was mit Wisterie geschehen ist?«, fragte Hirata.
    Die Posten sahen einander an; dann schüttelten sie die Köpfe. »Wir haben sie jedenfalls nicht durchs Tor gelassen«, sagte der Untersetzte.
    »Wir schwören es bei unserem Leben!«, fügte der Hagere hinzu.
    Doch die eindringlichen Beteuerungen der beiden Männer konnten ihre Furcht nicht verbergen: Sie hatten Angst vor der Strafe, dass sie eine Mordverdächtige hatten entkommen lassen. Hirata konnte ihre Furcht gut verstehen, denn auch seine Zukunft war bedroht. Wenn es ihm nicht gelang, den Mörder zu ergreifen, würde er degradiert, verbannt oder sogar gezwungen, seppuku zu begehen, den rituellen Selbstmord. Er musste an Midori und den bevorstehenden miai denken, und in seinem Innern mischten sich Freude und Angst.
    Der fünfundzwanzigjährige Hirata hatte schon öfter geglaubt, die große Liebe gefunden zu haben, doch nie zuvor hatte er sich so sehr zu einer Frau hingezogen gefühlt wie zu Midori. Sie hatte eine nie gekannte Sehnsucht in ihm erweckt, so wie Hirata Midoris Herz entflammt hatte. Beide glaubten, bereits in einem früheren Leben

Weitere Kostenlose Bücher