Der Verrat
massierten und ihm Heiltränke einflößten. Hoshinas Miene verdüsterte sich, denn ohne die Aufmerksamkeit des Shōgun verpufften seine boshaften Sticheleien im Nichts. Sano hingegen atmete auf.
Die Ältesten tuschelten aufgeregt:
»Was soll werden, wenn der Shōgun stirbt?«
»Jetzt, da sein Erbe tot ist, müssen wir mit bewaffneten Kämpfen um seine Nachfolge rechnen!«
»Wenn der bakufu und die daimyō sich zu gegnerischen Parteien zusammenschließen, gibt es Bürgerkrieg!«
Die Ältesten verstummten und schauten Sano an. Ihre Blicke waren beredt: Sano musste den Mörder Fürst Mitsuyoshis so schnell wie möglich finden, oder er trug die Verantwortung für den Tod des Shōgun und den Krieg, der dann unweigerlich folgte.
Kammerherr Yanagisawa erhob sich und verkündete mit ruhiger Stimme: »Hiermit ist das Treffen beendet.«
Doch Sano wusste, dass seine Probleme jetzt erst richtig begannen.
In eine Decke gewickelt, saß Reiko im Wohngemach neben einem Holzkohleofen. Im kalten Innern der Villa knirschte und knackte das Gebälk; in der Ferne läuteten Tempelglocken zur Mitternacht. Die Dienerschaft hatte sich zur Ruhe begeben; auch Masahiro schlief längst. Nun wartete Reiko, allein und voller Sorge, im Licht der Laterne, die sie für Sanos Heimkehr hatte brennen lassen. Vielleicht war es noch zu früh, ihn zu fragen, ob sie beide wieder gemeinsam arbeiten sollten; vielleicht hatte Sano ihren letzten gemeinsamen Fall, die Ermittlungen gegen die Sekte der Schwarzen Lotosblüte, noch zu frisch in Erinnerung, sodass er Reikos Bitte mit der Begründung zurückwies, dass ihre Fehler damals zu folgenschwer gewesen seien, um es noch einmal mit einer Zusammenarbeit zu versuchen. Und falls es dann erneut zum Streit kam, war eine Aussöhnung vielleicht nie wieder möglich …
Die Eingangstür wurde geöffnet, und Reiko hörte das Klappern in der Eingangshalle, als Sano seine Schwerter ablegte. Rasch warf sie die Decke ab und erhob sich. Ihr Herz schlug schneller, als Sanos Schritte auf dem Flur näher kamen. Dann betrat er das Wohngemach.
»Du bist noch wach?«, fragte er verwundert. Reiko sah die Erschöpfung auf seinem Gesicht, und er hatte sichtlich Mühe, seine gerade Körperhaltung unter der Last der Sorgen beizubehalten. »Du hättest nicht so lange auf mich zu warten brauchen.«
»Ich weiß. Ich wollte es aber«, sagte Reiko und half ihm, seinen Umhang abzustreifen. »Ich freue mich, dass du endlich da bist«, fügte sie mit einem Lächeln hinzu.
»Ich bin auch froh. Es war ein schwerer Tag.«
Zögernd umarmten sie einander, als hätten sie Angst, der andere könnte zu zerbrechlich für eine liebevolle, leidenschaftliche Umarmung sein.
»Du bist durchgefroren«, sagte Reiko, als sie Sanos kalte Haut spürte. »Setz dich an den Ofen.«
Sano nahm Platz, und Reiko wickelte ihn in die Decke, deren eines Ende sie dann über dem Herd ausspannte.
»Danke«, sagte Sano. »So ist es besser.«
Reiko wünschte sich, die emotionale Kälte, die seit Wochen zwischen ihnen herrschte, genauso leicht vertreiben zu können wie die Kälte im Körper. »Hast du Hunger? Möchtest du etwas essen?«
»Ja, gern. Wenn es dir nicht zu viele Umstände macht.«
Das war typisch für ihren Umgang in den letzten drei Monaten. Sie waren höflich zueinander und darauf bedacht, sich dem anderen nicht aufzudrängen oder ihn zu verärgern. Selbst wenn sie miteinander schliefen, geschah es mechanisch und lustlos. Traurigkeit überkam Reiko, als sie an die leidenschaftlichen Nächte von einst dachte.
Sie ging in die Küche, um die Miso-Suppe, den Reis und den gekochten Fisch aufzuwärmen, die sie für Sano zubereitet hatte; dann kam sie mit der späten Mahlzeit und einer Schale Tee zurück ins Wohngemach, stellte das Serviertablett neben Sano auf den Boden und bereitete ihm auf einem Holzkohleofen heißen Sake zu.
Sano dankte ihr höflich. Während er aß und trank, kniete Reiko sich ihm gegenüber.
»Wie geht es Masahiro?«, fragte er.
»Sehr gut. Er wird immer unternehmungslustiger.«
Die Nächte waren für Reiko und Sano schwieriger als die Tage, denn tagsüber füllte Masahiro die Leere, die zwischen ihnen entstanden war, als sie ihre gemeinsame Ermittlungsarbeit beendet hatten. Manchmal schien es, als hätten sie beide außer ihrem Sohn nichts mehr gemein, sodass sie ihre Entfremdung besonders deutlich spürten, wenn Masahiro nicht bei ihnen war, so wie jetzt.
»Was hast du heute gemacht?«, fragte Sano beiläufig.
Reiko
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