Der Verrat
erkannte, dass er sich in Gedanken mit den Ereignissen des Tages beschäftigte, und hätte ihn am liebsten nach dem Fortgang der Ermittlungen gefragt; stattdessen antwortete sie auf seine Frage: »Keisho-in hat eine Feier gegeben, auf der ich Fürstin Yanagisawa und ihre Tochter kennen gelernt habe.«
»Tatsächlich?« Sano blickte sie mit plötzlich erwachter Neugier an. »Wie sind sie denn so?«
Reiko schilderte ihm Fürstin Yanagisawa und Kikuko und erzählte ihm, wie ihre Begegnung verlaufen war. Doch als sie erwähnte, dass die Fürstin sich ein freundschaftliches Verhältnis zwischen ihnen erhoffte und ihren Besuch angekündigt hatte, keimte wieder Misstrauen in ihr auf. »Meinst du, ich hätte der Fürstin gegenüber zurückhaltender sein sollen?«, fragte sie, als sie geendet hatte.
Vor ihrer Ehe hatte Reiko immer nur das getan, was ihr gefallen hatte, und ihre Unabhängigkeit genossen. Nun aber war sie die Frau eines hohen bakufu- Beamten und musste schon deshalb Zugeständnisse machen, sich Beschränkungen auferlegen oder Sanos Zustimmung einholen, besonders in einem Fall wie diesem. Sano runzelte die Stirn, und Reiko rechnete schon mit Vorhaltungen, schließlich war Fürstin Yanagisawa die Gemahlin jenes Mannes, der jahrelang Sanos erbittertster Feind gewesen war. Dann aber schwand der Unmut aus Sanos Gesicht und wich der Erschöpfung, als hätte er nicht mehr die Kraft, sich neben seinen eigenen Problemen auch noch mit anderen zu beschäftigen.
»Es wäre gefährlicher gewesen, hättest du ihr Freundschaftsangebot zurückgewiesen«, sagte er. »Du hättest ihr nicht verweigern können, dich zu besuchen, ohne sie zu beleidigen. Und eine Angehörige des Yanagisawa-Klans zu beleidigen, können wir uns gerade jetzt nicht leisten.«
»Gerade jetzt? Was meinst du damit?«, fragte Reiko.
Sano erzählte ihr vom Schauplatz des Verbrechens, von seinen Ermittlungen in Yoshiwara und von den beiden Verdächtigen, Momoko und Schatzminister Nitta. Reiko hörte gespannt zu. Sie genoss es, nach so langer Zeit wieder mit Sano über einen Fall zu sprechen, und hatte den innigen Wunsch, sich an den Ermittlungen beteiligen zu können. Doch sie zögerte, Sano danach zu fragen, als er nun berichtete, wie Polizeikommandeur Hoshina sich in die Nachforschungen eingemischt und versucht hatte, ihm Steine in den Weg zu legen und den Waffenstillstand mit Kammerherr Yanagisawa zu brechen.
»Der Shōgun wird mich hinrichten lassen, wenn ich den Fall nicht schnellstens löse«, sagte Sano. »Und wenn er stirbt, ohne einen neuen Erben benannt zu haben, droht ein Bürgerkrieg.« Sano hielt inne und blickte Reiko fragend an. »Würdest du mir bei den Ermittlungen helfen?«
Für einen Moment verschlug es Reiko die Sprache. Dass Sano sie um Hilfe bat, hätte sie am wenigsten erwartet. Noch Minuten zuvor wäre sie ihm vor Freude um den Hals gefallen, nun aber, da sie die Umstände des Falles besser kannte, kämpften widerstreitende Empfindungen in ihrem Innern. Diese Sache war so heikel, dass es katastrophale Folgen nicht nur für Sano und sie selbst haben konnte, sondern für das ganze Land, falls sie wieder einen so schweren Fehler beging. So sehr Reiko sich danach sehnte, die berufliche Partnerschaft zu erneuern, die ein Grundstein ihrer Ehe gewesen war – nun überkam sie die Angst, zu versagen und unzählige Menschen in den Abgrund zu reißen.
Reiko schaute Sano an und sah Enttäuschung und Schuldgefühle in seinen Augen. Schließlich wandte er den Blick ab und stellte die leeren Schüsseln und Schalen auf das Serviertablett. »Es tut mir Leid«, sagte er müde, »ich hätte gar nicht erst zulassen dürfen, dass du diesen Beruf ergreifst. Wenn ich daran denke, was man dir im Tempel der Schwarzen Lotosblüte angetan hat … Ich könnte dich verstehen, würdest du die Ermittlungsarbeit für immer aufgeben.«
Plötzlich erkannte Reiko, dass Sano ihr Zögern falsch deutete: Er glaubte, ihre Erlebnisse während des letzten Falles hätten eine so panische Furcht in ihr erweckt, dass sie nun zu verängstigt war, es noch einmal als Ermittlerin zu versuchen.
Reiko nahm seine Hand und blickte ihn fest an. »Ich habe keine Angst, dass mir etwas zustoßen könnte«, sagte sie. »Ich fürchte mich vielmehr davor, wieder Fehler zu machen.«
Als Reiko ihm von ihren Ängsten und Sorgen erzählte, erkannte Sano, wie viel sie beide aus falsch verstandener Rücksichtnahme vor dem anderen verborgen hatten. Sie hatten einander geschworen, die
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