Der Verrat
Schrecken im Tempel der Schwarzen Lotosblüte endlich zu vergessen – doch beiden war es nicht gelungen. Insbesondere Reiko hatte unter Selbstvorwürfen, Ängsten und Zweifeln gelitten, die ihr die alte Lebendigkeit und Entschlusskraft geraubt hatten. Doch als sie nun beteuerte, eine Gefahr für Leib und Leben könne ihr keine Furcht einjagen, glaubte Sano ihr.
»Du solltest deine Irrtümer und Fehler vergessen und ganz von vorn anfangen«, sagte er. »Und dieser neue Fall verschafft dir die Gelegenheit.«
Reiko hob den Kopf, und Sano sah immer noch die Angst vor dem Versagen in ihren Augen – aber auch einen Funken Hoffnung. »Aber ich habe mich in deine Ermittlungen gegen die Schwarze Lotosblüte eingemischt«, sagte Reiko. »Ich habe mich in aller Öffentlichkeit gegen dich gestellt. Trotzdem möchtest du, dass wir wieder zusammenarbeiten? Kannst du mir denn verzeihen?«
»Ja«, erwiderte Sano schlicht. Was Reiko am meisten brauchte, waren ein neuer Fall und ein neuer Erfolg, der ihr wieder Selbstvertrauen gab. »Wäre es umgekehrt und ich hätte Fehler gemacht, würde ich jede Gelegenheit nutzen, diese Fehler wieder gutzumachen und mir selbst und allen anderen zu beweisen, dass ich mich von einem Fehlschlag nicht entmutigen lasse.«
Reiko seufzte und erhob sich. Sano sah, dass sie noch immer mit sich kämpfte.
»In vielen Fällen wissen Frauen besser als Männer, was in Edo vor sich geht«, sagte er. »Weil der Shōgun mir untersagt hat, Ermittlungen über die Familie und die Freunde Fürst Mitsuyoshis anzustellen, muss ich mir auf andere Weise bestimmte Informationen beschaffen, ohne die ich meine Ermittlungen nicht weiterführen kann. Ich muss wissen, wer Mitsuyoshis Feinde waren und ob er irgendetwas getan hat, das zu seiner Ermordung geführt haben könnte. Vielleicht kommst du an diese Informationen heran …« Sano hielt kurz inne, ließ seine Worte auf Reiko einwirken und fuhr fort: »Ich bitte dich, nimm die Gelegenheit wahr, wieder mit mir zu arbeiten, zumal ich deine Hilfe dringend brauche.«
»Ich könnte es versuchen …«, sagte Reiko schließlich, mehr zu sich selbst. Dann blickte sie Sano an. »Also gut. Morgen werde ich meine Nachforschungen aufnehmen. Vielleicht finde ich dabei heraus, was aus Wisterie geworden ist. Ich kenne Frauen, denen Neuigkeiten und Gerüchte aus Yoshiwara zugetragen werden. Vielleicht haben sie etwas von Wisterie gehört.«
Diesmal war es Sano, für den dieses Gespräch sich plötzlich in eine Landschaft voller gefährlicher Abgründe verwandelte: Er hatte Reiko nie von seiner Affäre mit Wisterie erzählt. Mit Sicherheit ging Reiko davon aus, dass er vor ihr schon andere Frauen gehabt hatte: Männer besaßen die Freiheit, ihre sexuelle Lust befriedigen zu dürfen, wann immer sie wollten. Doch zwischen Sano und Reiko gab es eine stillschweigende Vereinbarung, niemals über die Frauen aus Sanos Vergangenheit zu reden, denn ihre Verbindung ging über die Liebe hinaus; sie beide betrachteten sich als einzigartige Einheit, die etwas Besonderes und Kostbares war und die sie nicht in Gefahr bringen wollten.
Obwohl Sano der Meinung war, dass eine flüchtige Affäre – und dies zu einer Zeit, da er Reiko nicht einmal gekannt hatte – keine Bedeutung für ihre Ehe besaß, war er besorgt, was Reiko empfinden würde, wenn sie von seinem Verhältnis mit Wisterie erfuhr – zu einem Zeitpunkt, da sie beide beschlossen hatten, in der Ehe und im Beruf noch einmal von vorn anzufangen. Es bekümmerte Sano, ein Geheimnis vor Reiko zu haben, doch ihr jetzt die Wahrheit zu sagen hätte vielleicht alles zunichte gemacht, was sie in den letzten Stunden so mühsam erreicht hatten, und hätte einen Neuanfang womöglich für immer unmöglich gemacht.
»Was weiß man bisher über Kurtisane Wisterie?«, riss Reikos Stimme Sano aus seinen Gedanken. »Hast du Informationen, was für ein Mensch sie ist? Oder weißt du etwas über ihre Vergangenheit? Das könnte uns sehr helfen, sie zu finden.«
Dass er Wisterie persönlich kannte, verschwieg Sano vorerst, andernfalls hätte Reiko sich gefragt, weshalb er ihr nicht eher von ihrer Bekanntschaft erzählt hatte, und würde den Grund erraten. Bedächtig erhob sich Sano, um ein paar Augenblicke Zeit zu gewinnen, sich eine Antwort zu überlegen.
»Wisterie stammt aus der Provinz Dewa«, sagte er dann und rief sich in Erinnerung, was sie ihm damals, in ihrer ersten gemeinsamen Nacht, erzählt hatte. »Ihr Vater war Bauer. Er hat Wisterie als
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