Der Verrat
geschmeidigen Schritten auf Wisterie zu. Der Blick aus seinen wachsamen Augen – tiefe schwarze Schlitze in seinem zerfurchten Gesicht – war überall, argwöhnisch hielt er nach möglichen Bedrohungen Ausschau.
»Stimmt etwas nicht?«, wollte er von Wisterie wissen.
Wisteries Atem beruhigte sich wieder, doch sie blieb wachsam. »Himmelsfeuer!«, begrüßte sie den Ankömmling. »Du hast mich erschreckt.«
Sie erhob sich und spürte erneut die Anziehung, die seine herbe und sinnliche Männlichkeit auf sie ausübte. Zugleich überkam sie die gewohnte Furcht vor seiner Unberechenbarkeit und seinen gewalttätigen Zornesausbrüchen.
»Wo bist du gewesen, Himmelsfeuer?«, fragte sie.
»Fort«, erwiderte er kurz angebunden. »Musste mich um Geschäfte kümmern.«
Wisterie wusste inzwischen, dass Himmelsfeuer verschlossen war und nicht gern von sich selbst erzählte oder davon, was er tat. »Verzeih, dass ich gefragt habe«, sagte sie. »Es ist nur … du warst den ganzen Tag fort, und ich fürchte mich, wenn ich alleine bin.« Draußen in der Spielhalle war es zu einer Schlägerei gekommen. Klirren und Krachen, Schreie der Wut und des Schmerzes, das Grölen der Zuschauer und das Prasseln von Münzen, die zu Boden fielen, waren zu vernehmen.
Himmelsfeuer lachte. »Du bist hier sicherer als in Yoshiwara.«
Wisterie wünschte sich, ihm glauben zu können. Sie war zwar nun weit weg vom ageya Owariya und dem Gemach, in dem Fürst Mitsuyoshi ermordet worden war, doch das Leben außerhalb der Mauern Yoshiwaras barg neue Gefahren und Bedrohungen. Inzwischen hatte die Polizei bestimmt schon die Fahndung nach ihr aufgenommen. Und Wisterie war zwar dem Bordellbesitzer entkommen, für den sie hatte arbeiten müssen, war nun aber der Gnade Himmelsfeuers ausgeliefert, der seinen Namen zu Recht trug: Er war so unberechenbar wie ein Gewitter; man wusste immer erst, was er vorhatte, wenn es bereits zu spät war.
»Was ist?«, fragte Himmelsfeuer und musterte Wisterie argwöhnisch. »Gefällt es dir hier nicht?« Er warf das Bündel auf den Boden und trat auf Wisterie zu. »Oder gefällt dir meine Gesellschaft nicht? Vermisst du deine schönen Gemächer und deine vornehmen Freunde?«
»Nein, nein«, sagte Wisterie rasch und wich zurück, so sehr fürchtete sie sich vor dem drohenden Unterton in seiner Stimme. »Ich bin glücklich, dass ich hier bin, hier bei dir …«
»Weißt du eigentlich, was mit mir geschehen wäre, wenn man mich dabei erwischt hätte, wie ich dich aus Yoshiwara herausgeschmuggelt habe?« Er packte ihr Handgelenk. Sein Griff war so schmerzhaft, dass Wisterie einen kläglichen Schrei ausstieß. »Man hätte mich festgenommen und verprügelt, vielleicht sogar getötet. Ich habe für dich mein Leben aufs Spiel gesetzt! Deshalb solltest du mit allem zufrieden sein, was ich dir gebe, anstatt dich zu beklagen.«
»Ich bin zufrieden!«, stieß Wisterie hastig hervor, um Himmelsfeuer zu besänftigen. »Und ich danke dir für alles, was du für mich getan hast.« Sie senkte die Lider, lächelte aufreizend und senkte die Stimme zu einem heiseren Flüstern: »Ein so starker und tapferer Mann wie du kann mich auf jede Weise befriedigen.«
Jahrelange Erfahrung hatte Wisterie gelehrt, wie man einem Mann schmeicheln konnte. Als sie nun die Fingerspitzen sanft über Himmelsfeuers Wange gleiten ließ, schwand der Zorn aus seinen Augen und wich einem Ausdruck der Begierde. »So ist es schon besser«, murmelte er.
»Bitte lass mich dir meinen Dank zeigen, indem ich dir zu Gefallen bin …« Wisterie brauchte ihr Verlangen nicht zu spielen: Himmelsfeuers Berührung und sein funkelnder Blick erweckten Leidenschaft in ihr.
Ein selbstgefälliges Lächeln legte sich auf seine Lippen und ließ erkennen, dass er sich seiner Macht über Wisterie bewusst war. »Später«, sagte er. Er ließ ihr Handgelenk los, kauerte sich vor das Bündel, das er mitgebracht hatte, und schnürte es auf. »Ich bin hungrig«, sagte er. »Lass uns essen.«
Er hatte gekochten Reis mitgebracht, geräucherten Aal und Lachs, eingelegtes Gemüse, gebratene Garnelen und zum Nachtisch süßes Gebäck. Wisterie hatte den größten Teil des Tages geschlafen; den Rest der Zeit war sie zu unruhig gewesen, als dass sie einen Bissen herunterbekommen hätte; nun aber machten der Anblick und der Duft der Speisen sie heißhungrig. Sie setzte sich neben Himmelsfeuer auf den Boden, schlang die Speisen mit bloßen Fingern hinunter und spülte nach jedem Bissen mit
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