Der Verrat
auf die Ermittler, die Sano bereits am Tag zuvor zu Nittas Anwesen geschickt hatte und die nun im Garten auf Posten standen. »Das ist eine unerhörte Beleidigung!«
Nitta war ein bleicher, hagerer Samurai, von dem Sano wusste, dass er fünfzig Jahre alt war, wenngleich sein vorzeitig ergrautes Haar ihn älter erscheinen ließ. Unter den silbernen Brauen wirkten seine dunklen Augen fast schwarz. Nittas schmaler Mund war vor Zorn so fest zusammengepresst, dass er beinahe lippenlos erschien. In einen Kimono, einen Übermantel und eine Hose gekleidet, die allesamt Grautöne aufwiesen, sah er wie eine Gestalt auf einem Schwarz-Weiß-Gemälde aus. Er stand auf der Veranda, die Hände in die Hüften gestemmt, die Beine leicht gespreizt, und starrte mit zornigem Blick auf Sano hinunter.
»Hättet Ihr die Freundlichkeit, mir zu erklären, weshalb Ihr meine Familie und sämtliche Bediensteten unter Hausarrest gestellt habt?«, fuhr er Sano an.
»Ich bitte um Vergebung für diese Unannehmlichkeiten«, erwiderte Sano und verneigte sich tief, worauf seine Männer es ihm gleichtaten, »aber ich muss Euch im Zusammenhang mit dem Mord an Fürst Mitsuyoshi vernehmen.«
»Mord? Fürst Mitsuyoshi wurde ermordet …?« In Nittas unangenehm hoher Stimme schwang Unglauben mit, und er riss erschrocken die Augen auf. »Bei den Göttern! Wann wurde die Tat begangen? Und wo?«
Sano berichtete es ihm, wobei er sich fragte, ob die Reaktion des Schatzministers bloß gespielt war. Plötzlich wich der Ausdruck des Erschreckens aus Nittas Gesicht und wurde von Argwohn verdrängt.
»Und nun haltet Ihr mich für einen Verdächtigen? Das ist lächerlich! Gewiss, es ist Eure Pflicht, den Täter zu ergreifen, aber das ist noch lange kein Grund, meine Familie und mich so respektlos zu behandeln und des Mordes zu verdächtigen!«
Sano erkannte die Furcht hinter Nittas zorniger Fassade: Dem Schatzminister war sehr wohl bewusst, dass die Ermordung des Shōgun-Erben – und der Besuch Sanos im Zusammenhang mit diesem Mord – ihn in große Gefahr brachte.
»Ich habe Fürst Mitsuyoshi nicht getötet«, erklärte Nitta. »Und ich weiß nichts über seinen Tod. Nur das, was Ihr mir gerade darüber gesagt habt.«
»Wenn das so ist«, erwiderte Sano, »können wir die Angelegenheit rasch hinter uns bringen.« Er blieb respektvoll und höflich, denn sollte sich herausstellen, dass Nitta nicht der Mörder war, konnte er zu einem weiteren gefährlichen Feind werden. Nitta besaß sogar die Macht, die Gelder zu sperren, von denen Sanos Männer und seine gesamte Ermittlungsarbeit bezahlt wurden. Doch hätte Sano den Schatzminister nicht unter Hausarrest stellen lassen, hätte er sich dem Vorwurf mangelnder Wachsamkeit und ungerechtfertigter Milde gegenüber einem Tatverdächtigen ausgesetzt und Polizeikommandeur Hoshina die Chance verschafft, Nitta zu vernehmen, bevor Sano die Gelegenheit hatte. Es war für Sano keine leichte Wahl gewesen, und er konnte nur hoffen, die richtige Entscheidung getroffen zu haben.
»Nehmt Eure Schlägertruppe und schert Euch fort!«, stieß Nitta zornig hervor. »Ich werde Euch wissen lassen, wann es mir genehm ist, mit Euch zu reden!«
Sano ließ sich nicht beirren. »Ich habe Befehl, die Ermittlungen in der gebotenen Eile voranzutreiben. Deshalb rate ich Euch dringend zur Zusammenarbeit. Oder wollt Ihr den Zorn des Shōgun auf Euch ziehen?«
In den schwarzen Augen Nittas loderte ein gefährliches Feuer; dann aber wurde seine Miene ausdruckslos, und die Flammen der Wut erloschen. »Also gut«, sagte er, »kommt herein.«
Im großen Empfangsgemach der Villa standen Wandschirme, die mit Landschaftsbildern bemalt waren, die üppige grüne Wälder und Hügel zeigten; die Schirme umschlossen einen Bereich des Zimmers, in dem ein Holzkohleofen im Fußboden eingelassen war. Der Ofen sorgte für angenehme Wärme, während die Wandschirme die kalte Zugluft fern hielten, sodass inmitten dieses umschlossenen Bereichs der Eindruck entstand, sich in einem sommerlich warmen Wald aufzuhalten. Erst hier begrüßte Nitta seinen Besucher auf förmliche Weise und servierte ihm Tee, wobei er eine so übertriebene Höflichkeit an den Tag legte, dass sie seine Abneigung gegenüber Sano deutlicher zeigte, als unverhohlene Beleidigungen es vermocht hätten. Die beiden Männer knieten einander gegenüber, die Teeschalen in den Händen, wobei Nitta seinen Besucher mit einem Ausdruck tiefster Verachtung musterte.
»Erzählt mir bitte, was Ihr
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