Der Verrat
er.
»Ich bin die Nakanochō hinuntergegangen.«
»Seid Ihr dabei jemandem begegnet, der Euch kennt?«
»Schon möglich. Falls ja, ist es mir nicht aufgefallen, weil ich es eilig hatte.« Nitta lachte belustigt auf. »Ihr glaubt doch nicht etwa, ich hätte Wisterie entführt und sie irgendwo versteckt? Oder dass ich sie ermordet und die Leiche beiseite geschafft habe?«
Wenn nicht Nitta, hatte irgendjemand anders eins von beidem getan, da war Sano sicher. »Wenn Ihr nichts zu verbergen habt, werdet Ihr mir gewiss die Erlaubnis erteilen, Eure Villa zu durchsuchen und die Dienerschaft zu vernehmen?«
Nittas Miene verdüsterte sich, doch er nickte. »Wie Ihr wünscht«, sagte er und erhob sich. »Aber Ihr werdet nichts finden. Ihr vergeudet Eure Zeit.«
Sano und seine Ermittler durchsuchten das gesamte Anwesen, einschließlich der Kasernen, Schreibstuben, Wohngemächer, Bäder, Kellerräume, Küchen, Lagerräume, Ställe, Gartenpavillons sowie die Unterkünfte für die Familie, die Hausangestellten und die Dienerschaft. Die Ermittler öffneten Truhen, Kisten, Kästen, Fässer und Schränke, die groß genug waren, einen Menschen darin zu verstecken; außerdem suchten sie nach geheimen Kammern und Gängen. Doch sie fanden keine Spur von Kurtisane Wisterie und auch keinen Hinweis darauf, dass der Schatzminister auf irgendeine Weise mit Wisteries Verschwinden oder mit dem Mord zu tun gehabt hatte. Die Ermittler befragten Nittas Gemahlin, seine Konkubinen, seine Verwandten, seine Gefolgsleute, seine Diener, seine Wachsoldaten – insgesamt ungefähr achtzig Personen. Alle erzählten die gleiche Geschichte: Nitta war nur in Begleitung jener Gefolgsleute nach Hause gekommen, die mit ihm in Yoshiwara gewesen waren.
Schließlich versammelten Sano und seine Männer sich auf dem Hof.
»Vielleicht lügen die Leute, um Nitta zu decken«, meinte Ermittler Fukida, ein ernster junger Mann. »Vielleicht sind sie ihm treuer ergeben als dem Shōgun und dem bakufu .«
»Fragt die Wächter an den Toren und Kontrollstationen, ob Nitta eine Frau mit in den Palast gebracht hat, als er von Yoshiwara kam«, wies Sano seine Männer an. »Vielleicht hat er sie bestochen, dass sie Wisterie durchlassen und darüber schweigen.«
»Aber sie ist nicht hier, sonst hätten wir sie finden müssen. Nitta kann sie doch nicht unsichtbar gemacht haben«, sagte Ermittler Marume, ein kräftiger Mann mit der Statur eines geübten Kämpfers, dessen unerschütterlich gute Laune nun ein wenig von Enttäuschung getrübt war. »War er besorgt oder bestürzt, als er erfahren hat, dass Wisterie verschwunden ist?«
»Nicht sehr«, sagte Sano.
»Vielleicht weiß er, wo Wisterie ist«, meinte Fukida.
»Nitta könnte einen Komplizen haben, der sie in seinem Auftrag aus Yoshiwara entführt und irgendwo untergebracht hat«, sagte Sano nachdenklich.
»Ja, das wäre weniger riskant für ihn gewesen, als Wisterie selbst aus Yoshiwara herauszuschmuggeln und hierher zu bringen«, pflichtete Marume bei.
»Wenn es so ist, befindet Wisterie sich vermutlich in der Nähe, damit Nitta rascher und weniger gefahrlos zu ihr kann«, sagte Sano und erteilte seinen Ermittlern Befehle: »Behaltet Nitta im Auge. Folgt ihm, wohin er auch geht. Vielleicht führt er uns zu Wisterie. Und lasst ganz Edo von soldatischen Trupps durchsuchen, ein Stadtviertel nach dem anderen. Die Männer sollen jede Frau verhaften, die nicht auf den Einwohnerlisten der Wohnviertelvorsteher verzeichnet ist.«
Die Eingangstür der Villa wurde geöffnet, und Nitta erschien. »Seid Ihr jetzt endlich fertig, sōsakan-sama? «, fragte er mürrisch. »Kann ich mich wieder um meine Geschäfte kümmern?«
Sano nickte, verbeugte sich zusammen mit seinen Männern und gestand seine Niederlage ein.
»Es wird dem Shōgun gar nicht gefallen, wenn er erfährt, dass Ihr so viel Zeit mit Nachforschungen über mich verschwendet habt, einen völlig unschuldigen Mann, statt den Mörder von Fürst Mitsuyoshi zu verfolgen«, sagte Nitta mit Spott und Genugtuung. »Doch um Euch zu zeigen, dass ich Euch nichts nachtrage, will ich Euch einen kleinen Hinweis geben. Bei Eurer Suche nach einem möglichen Täter solltet Ihr einen hokan namens Fujio nicht außer Acht lassen.«
Ein hokan war ein Unterhaltungskünstler – ein Musiker und Sänger, der für reiche Adlige und Händler in der Gegend um Edo sowie für die Besucher des Vergnügungsviertels Yoshiwara sang und musizierte.
»Was ist mit diesem Fujio?«, fragte
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