Der Verrat
Rechte beraubt worden war, blieben die Nius dennoch eine der mächtigsten Familien des Landes. Der erste Tokugawa-Shōgun hatte die Gefahr erkannt, dass die Nius zu Rebellen werden könnten, sofern er die besiegten Feinde nicht befriedete. Deshalb hatte er den Nius ein Lehen in Satsuma gewährt und ihnen das Recht zugestanden, über die Provinz zu herrschen. Fürst Niu Masamune, der jetzige daimyō , war sehr wohlhabend. Der Mann, der Midori heiratete, würde eine beträchtliche Mitgift erhalten.
Hiratas Vater blickte seinen Sohn finster an; er wusste nur zu gut, dass seine Familie die Verbindung zu den Nius, die er so strikt ablehnte, dringend benötigte. »Das ist aber auch der einzige Grund, dass ich eine Ehe zwischen dir und diesem Mädchen überhaupt erwogen habe«, sagte er, setzte sich wieder in Bewegung und humpelte weiter die Straße hinauf.
»Da wären wir!«, sagte Hauptmann Segoshi fröhlich, als wäre er entschlossen, die Familie gut gelaunt durch den miai zu führen. »Das Morita-za-Theater.« Dieses Theater war ein großes Gebäude; über dem Eingang waren Gemälde angebracht, die Szenen aus verschiedenen Stücken zeigten. Vor dem Theater stand ein Trupp Soldaten wachsam auf der Straße. Auf den Rücken dieser Männer waren Stöcke mit Wimpeln befestigt, auf denen ein Wappen zu sehen war, das eine Libelle zeigte.
»Seht nur«, sagte Hauptmann Segoshi. »Fürst Niu ist schon da. Er und seine Tochter werden im Theater bereits auf uns warten.«
»Was für eine Prahlerei«, murmelte Hiratas Vater. »Na, von solchen Leuten kann man wohl nichts anderes erwarten.«
Hirata warf ihm einen Blick zu, in dem die stumme Bitte lag, er solle seinen Neid und seine Vorurteile wenigstens für die Dauer des miai zurückstellen.
Hauptmann Segoshi kaufte bei dem Mann im Kassenhäuschen Eintrittskarten, und die Gruppe betrat das Morita-za und gelangte in einen riesigen, zugigen Saal, der von Stimmengewirr erfüllt war. Eine der Aufführungen hatte soeben geendet; nun kniete ein einsamer Musiker auf der Bühne und spielte auf einer Samisen. Ein Teil der Zuschauer hatte auf Sitzreihen entlang der Wände Platz genommen; ein anderer Teil kniete auf dem Fußboden, der mittels niedriger, beweglicher Trennwände in Logen aufgeteilt war. Alle warteten auf den Beginn des nächsten Stückes. Hirata ließ den Blick über die Zuschauermenge schweifen und entdeckte Midori in einem abgetrennten Bereich unweit der Bühne. Das Licht, das durch die Fenster entlang der oberen Galerie in den Saal fiel, beleuchtete ihren blutroten Kimono. Als ihre Blicke sich trafen, strömte ihm das Herz vor Freude über. Midori lächelte ihn an, wandte sich aber rasch ab. Bei einem miai verhielten beide Parteien sich so, als würden sie sich zufällig begegnen, sodass die Beteiligten bei einem Fehlschlag so tun konnten, als wäre nie etwas geschehen. Auf diese Weise konnten sie das Gesicht wahren.
Hirata führte seine Gruppe an den Trennwänden und Verkäufern vorüber, die auf Servierbrettern Erfrischungen feilboten, bis er und die anderen schließlich zu der Loge in der Nähe der Bühne gelangten, wo Midori mit einer alten Dame, zwei blutjungen Dienerinnen und zwei Samurai mittleren Alters saß. Innerlich angespannt, kniete Hirata vor der Gruppe nieder und verbeugte sich; dann taten seine Begleiter es ihm gleich. Midori warf Hirata einen raschen Blick zu, senkte dann sittsam den Kopf und schaute zu Boden.
»Ich grüße Euch«, sagte Hirata zu den Nius, wobei seine Stimme leicht zitterte.
Die Nius und deren Begleiter verneigten sich ebenfalls und erwiderten die höfliche Begrüßung. »Was für ein Zufall, dass wir uns hier begegnen!«, sagte Hauptmann Segoshi.
Als er geschickt in die Rolle des Mittelsmannes schlüpfte und die beiden Gruppen einander vorstellte, erfuhr Hirata, dass die schwarz gekleidete alte Dame die Großmutter Midoris väterlicherseits war; die jungen Frauen waren ihre Dienerinnen. Der ältere der beiden Samurai, ein mürrisch wirkender Mann namens Okita, war der oberste Gefolgsmann des Fürsten Niu. Doch Hirata beachtete sie kaum; seine ganze Aufmerksamkeit war auf Fürst Niu gerichtet.
Der daimyō war ein kleiner, aber kräftiger, breitschultriger Mann von würdevoller Haltung, in kastanienbraune Gewänder gekleidet, auf denen in goldener Farbe das Libellenwappen seiner Familie prangte. Der Blick in sein kantiges, gebräuntes Gesicht beunruhigte Hirata, denn die beiden Gesichtshälften passten auf eigentümliche Weise nicht
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