Der Verrat
Weg.
Sano ging einen Flur hinunter in die gewiesene Richtung, aus der er Stimmengewirr und Lachen vernahm. Im Gesellschaftszimmer hatten sich mehrere Samurai und die Kurtisanen aus dem Freudenhaus Atami versammelt; sie aßen, tranken und unterhielten sich angeregt. Kamuro trugen die Speisen auf – gebratenen Fisch, Muscheln, Salate und Reis – und schenkten den Männern Sake ein. Während Sano in der Tür innehielt, kam auf der gegenüberliegenden Seite des Gesellschaftszimmers ein Mann aus einer Eingangstür, die mit einem Vorhang verhängt war. In der einen Hand hielt er eine Samisen, in der anderen einen großen Fächer, den er nach einem eleganten Schwung mit einem lauten Knall zusammenklappte, sodass sich ihm alle Köpfe zuwandten.
»Ich danke euch allen für eure Aufmerksamkeit«, sagte Fujio.
Die Gäste begrüßten das Erscheinen des hokan mit lautem Jubel. Als Fujio sich hinkniete, seine Samisen ergriff und einige Akkorde anschlug, betrachtete Sano den Unterhaltungskünstler eingehend. Fujio war Mitte dreißig, schlank, hoch gewachsen und gut aussehend. Seine funkelnden Augen blickten fröhlich, und auf seinem Gesicht lag ein schelmischer Ausdruck. Sein seidiges schwarzes Haar war im Nacken zu einem Knoten gebunden. Er trug die traditionelle Kleidung eines hokan : einen schwarzen, bedruckten Umhang über einem beigefarbenen Kimono.
»Mit eurer gütigen Erlaubnis werde ich euch nun mein neuestes Lied vortragen, ›Die rätselhafte Flut‹«, verkündete er.
Die Zuhörer ließen sich erwartungsvoll nieder, um zu lauschen. Fujio stimmte auf der Samisen eine lebhafte Melodie an und sang mit klangvoller Stimme:
» Ein freigebiger Herr aus Osaka ,
Der Kurtisanen in der Heimat überdrüssig ,
Mit seinem Gefolge nach Yoshiwara kam ,
Um frische Blüten sich zu pflücken .
Begierig , die Gunst der Schönen zu erobern ,
Umwarben die Männer die begehrtesten tayu ,
Und der Sake floss so reichlich
Wie süße , schmeichlerische Worte .
Aber , ach! Die Schönen verschmähten die Freier .
Doch die enttäuschten Männer , unbeirrt ,
Verbrachten dreißig Nächte mit andern Kurtisanen
Und versuchten , deren Gunst zu gewinnen .
Doch wieder war ihre Mühe vergebens ,
Sodass ihr Verlangen unbefriedigt blieb .
Bedrückt traten sie den Heimweg an ,
Von unbefriedigter Lust erfüllt .
So erregt waren sie , dass sie am Deich
Eines mächtigen Flusses innehielten .
Hier streichelte jeder sein Glied so lange ,
Bis ein gewaltiger Schwall seines Samens
In die Höhe schoss und in den Fluss sich ergoss ,
In solchen Mengen , dass der Deich überflutet wart .
Und die Bauern in den Dörfern an jenem Deich
Schlugen die Trommeln , die vor Fluten warnen ,
Und noch viele Jahre lang fragten sie sich :
Was hat in jener regenlosen Nacht
Die Überschwemmung hervorgebracht? «
Die Samurai lachten grölend, die Kurtisanen kicherten, und Sano lächelte. Schlüpfrige Lieder waren Fujios Spezialität. Der hokan stand auf und verneigte sich, während ihm begeisterter Applaus entgegenrauschte. Dann erblickte er Sano. Ein Ausdruck des Erschreckens huschte über sein hübsches Gesicht.
»Entschuldigt!«, rief er dem Publikum zu.
Er ließ seine Samisen fallen und floh durch die Tür, durch die er gekommen war, begleitet von protestierenden Rufen der Samurai. Sano machte sich an die Verfolgung Fujios, stieß jedoch auf ein Hindernis: Die Kurtisanen drängten sich an der Tür, durch die der hokan geflohen war, und riefen ihm nach: »Komm zurück!«
Als Sano die Frauen beiseite geschoben hatte und auf den Flur gelangte, war Fujio verschwunden. Eine offene Tür an einem Ende des Korridors führte aus dem Gebäude. Sano eilte dorthin, stürmte ins Freie und fand sich in einer dunklen Gasse wieder, die an der Ostmauer Yoshiwaras verlief. Endlich sah er Fujio, der soeben an einer langen Reihe übel riechender Toilettenhäuschen vorbeirannte und offenbar die Absicht hatte, in einen abgelegenen Teil des Vergnügungsviertels zu flüchten. Sofort nahm Sano die Verfolgung auf, wobei er auf den glitschigen, von einer dünnen Schlammschicht bedeckten Pflastersteinen immer wieder ausglitt.
In einiger Entfernung hatte sich eine Gruppe Frauen versammelt, die Fujio den Weg versperrten und wild durcheinander riefen: »Kommt mit mir, Herr, und ich werde Euch glücklich machen!«
Dieser Teil Yoshiwaras war als Nichome bekannt, »der verhexte Bach« – ein Name, der sich von einer uralten Geschichte herleitete, nach
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