Der Verrat
haben.«
»Soll ich mich bei meinen Freundinnen und Bekannten erkundigen, ob sie etwas über Wisterie und ihren Liebhaber aus Hokkaido gehört haben?«, fragte Reiko, der ihr Fehlschlag am heutigen Tag zu schaffen machte und die nur zu gern eine zweite Chance bekommen wollte.
»Das ist eine gute Idee«, sagte Sano. »Dieser geheimnisvolle Liebhaber ist ein möglicher Zeuge, und wenn du uns seinen Namen – vielleicht sogar seine Beschreibung – beschaffen könntest, würde uns das sehr helfen, ihn und Wisterie ausfindig zu machen.«
Reiko nickte und zeigte ein dankbares Lächeln.
»Die Existenz der Tagebuchseiten halten wir geheim«, entschied Sano. »Polizeikommandeur Hoshina und seine Spitzel überwachen jeden unserer Schritte, vernehmen dieselben Personen wie wir und verfolgen dieselben Spuren. Das Tagebuch darf ihm unter keinen Umständen in die Hände fallen.«
Sano erhob sich und endete mit Nachdruck: »Es könnte unsere einzige Hoffnung sein, den Fall eher zu lösen als Hoshina und zu verhindern, dass er unsere Arbeit zunichte macht.«
13.
D
as einzeln stehende Anwesen von Kammerherr Yanagisawa befand sich in einem gesonderten Bereich des Palastgeländes, hoch auf dem Hügel und in der Nähe des Palasts. Lange spitze Holzpfähle, die zur Abschreckung dienten, ragten über die steinernen Mauern und verliehen dem Anwesen das Aussehen einer Festung innerhalb einer Festung. Auf den Wehrgängen patrouillierten Soldaten, standen an den Toren auf Posten und hielten in verborgenen Stellungen auf dem umliegenden Gelände Wache. Die eigentliche Villa Yanagisawas war ein gewaltiges Labyrinth aus ineinander verschachtelten Gebäudeflügeln. Der Wohnbereich der wichtigsten Gefolgsleute war von Kasernen umgeben, in denen Soldaten in ständiger Alarmbereitschaft standen. Inmitten dieses Wohnbereichs befanden sich die privaten Gemächer des Kammerherrn.
Polizeikommandeur Hoshina stand vor dem Türeingang zum Schlafgemach und blickte ins Innere, wo Yanagisawa sich auf weichen Kissen räkelte; im Halbdunkel wurde sein männlich-schönes Profil vom warmen Licht der Lampen hervorgehoben. In seinem Seidenkimono, der Hose und dem langen, schimmernden Umhang mit dem prächtigen Faltenwurf wirkten sein Körper, seine Kleidung und seine Haltung so harmonisch und perfekt proportioniert wie auf dem Gemälde eines Meisters. Yanagisawa schien tief in Gedanken versunken zu sein und Hoshinas Kommen gar nicht bemerkt zu haben. Doch der Polizeikommandeur wusste, dass Yanagisawa längst vom »Nachtigallenweg« alarmiert worden war, einem speziell konstruierten Fußboden, der Laute von sich gab, die wie Vogelgesang klangen, sobald jemand sich näherte. Überdies wusste der Kammerherr, dass Hoshina diesen Alarm ausgelöst hatte, denn er war der Einzige, der sich dem Schlafgemach nähern durfte.
Doch die Beziehung zwischen beiden Männern war seit dem Mord an Fürst Mitsuyoshi angespannt; deshalb zögerte Hoshina und fragte sich, ob er es wagen durfte, den Kammerherrn in seiner Ruhe zu stören.
Er sah, wie Yanagisawa eine silberne Tabakspfeife an die Lippen hob, einen tiefen Zug nahm und den Rauch ausblies. Dann schaute er in Hoshinas Richtung. Als ihre Blicke sich begegneten, spürte Hoshina, wie sein Herz plötzlich schneller schlug und all seine Sinne zum Leben erwachten. So war es jedes Mal, wenn er mit Yanagisawa zusammen war, auch nach zwei Jahren noch. Doch dem Gesicht des Kammerherrn war keine Regung zu entnehmen; er winkte Hoshina bloß, zu ihm ins Schlafgemach zu kommen.
»Ich habe vorhin schon nach Euch geschaut«, sagte Hoshina, betrat das Zimmer und kniete in Yanagisawas Nähe nieder.
»Ich hatte zu tun«, erwiderte der Kammerherr knapp.
Es ärgerte Hoshina, dass Yanagisawa ihm nicht anvertraute, wo er gewesen war und was er getan hatte. Zwar akzeptierte Hoshina, dass er selbst dem Kammerherrn stets Rechenschaft ablegen musste, während Yanagisawa ihm keinerlei Erklärungen schuldig war, dennoch war sein untergeordneter Rang für Hoshina eine Last. Und weil er Yanagisawa leidenschaftlich liebte, schmerzte diese kühle Begrüßung ihn umso mehr.
Doch nichts war Hoshina wichtiger, als seinem Herrn und Geliebten zu gefallen, deshalb berichtete er nun lächelnd: »Ich habe den ganzen Tag mit Nachforschungen im Zusammenhang mit dem Mord an Fürst Mitsuyoshi verbracht und bin dabei auf interessante Dinge gestoßen. Schatzminister Nitta hat einen hokan namens Fujio als Tatverdächtigen bezeichnet. Leider ist es Sano
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