Der Verrat
der Gedanke, die Heirat auf unbestimmte Zeit aufschieben zu müssen, erfüllte Midori mit Entsetzen. »Wie lange sollen wir denn warten?«, fragte sie leise.
»Ein, zwei Wochen mindestens. Ein Monat wäre noch besser.«
»Ein Monat!« Bis dahin würde jeder sehen können, dass sie schwanger war. Midori überkam die schreckliche Angst, diese Schande könnte den letzten Rest Hoffnung zunichte machen, dass ihre Familien doch noch in die Ehe einwilligten. »Das ist zu lange!« Ihre Stimme wurde schrill. »Wir müssen sofort etwas unternehmen!«
»Wenn wir versuchen, unsere Familien zu drängen, machen wir alles nur schlimmer.« Hirata blickte sie verwirrt an, erstaunt über ihre heftige Reaktion. »Wir müssen Geduld haben.«
»Ich kann aber nicht warten!«
»Du darfst dich nicht so aufregen, das führt zu nichts«, sagte Hirata, schloss sie in die Arme und streichelte ihr sanft übers Haar, über die Wangen, über den Busen. »Beruhige dich.«
Doch Hiratas liebevolle Berührungen, die Midori sonst sehr genossen hatte, verfehlten diesmal ihre Wirkung. »Nein!«, rief sie. »Lass mich!« Sie riss sich von Hirata los.
»Tut mir Leid«, sagte er betroffen. »Verzeih.«
Midori sah, dass er nicht begreifen konnte, weshalb sie ihn abwies, und dass sie seine Gefühle verletzt hatte. Doch sie hatte Angst, ihm von dem Kind zu erzählen oder sich von ihm berühren zu lassen, sodass er es fühlen konnte. Sich Hirata zu verweigern, würde sie natürlich nicht mehr davor schützen, was bereits geschehen war, doch neuerliche Intimitäten konnte sie nicht mehr ertragen.
»Ich sollte jetzt gehen«, sagte Hirata und schickte sich an, den Fichtenhain zu verlassen.
»Nein. Warte!« Midori eilte zu ihm und klammerte sich schluchzend an ihn.
Hirata hielt sie zögernd in den Armen, doch in seiner Stimme lag Entschlossenheit, als er sagte: »Ich bin bald wieder bei dir. Mach dir keine Sorgen. Ich finde schon einen Weg, alles wieder in Ordnung zu bringen.«
Vor einem großen Mitteilungsbrett, an dem Zettel mit den neuesten Ankündigungen und Verordnungen festgesteckt waren, stieg Hirata an der Nihonbashi-Brücke vom Pferd. Während Fußgänger an ihm vorüberströmten, heftete er einen Zettel an das Brett, auf dem zu lesen stand: »Jeder, der Männer aus Hokkaido kennt, die sich derzeit in Edo aufhalten oder in Edo gewohnt haben, oder der von solchen Männern gehört oder sie gesehen hat, wird hiermit angewiesen, sich umgehend beim sōsakan-sama des Shōgun zu melden.«
Doch als er den Zettel betrachtete, legte sich ein Ausdruck der Resignation auf sein Gesicht, denn er hatte bereits Stunden damit verbracht, in den Teehäusern Surugas nach Wisterie und ihrem Liebhaber zu suchen, ohne eine Spur von ihnen zu entdecken. Allmählich bezweifelte er, dass die vielen Notizzettel, die er bereits an anderen öffentlichen Anschlagbrettern befestigt hatte, zum Erfolg führten. Müde, durchgefroren und hungrig kaufte er sich bei einem Straßenhändler Sushi und Tee und ließ sich vor dem Geländer der Brücke nieder.
Unter ihm glitten Barken über den Kanal. Vor den Ständen des Fischmarkts am Ufer drängten sich die Menschen. In der feuchten, diesigen Luft lag der Gestank von fauligem Fisch; Möwen kreisten kreischend am bleigrauen Himmel. Während Hirata aß, dachte er über die schier unlösbaren Probleme nach, die ihm die Liebe und der Beruf bereiteten. Er hatte nur wenig Hoffnung, dass die Zeit die Wunden heilen würde, die Fürst Niu seinem Vater zugefügt hatte, und falls er Wisteries Liebhaber nicht fand, würden Sano und er diesen Mordfall wohl niemals lösen.
Plötzlich entstand Unruhe auf der Brücke, was Hiratas Aufmerksamkeit erregte und ihn von seinen düsteren Gedanken ablenkte. Er hob den Blick, um zu sehen, was los war, und augenblicklich hob sich seine Stimmung. Der Mann, der auf ihn zukam, hatte dichtes, widerspenstiges schwarzes Haar und einen wuchernden Vollbart, der einen großen Teil seines Gesichts bedeckte. Unter seinen buschigen Brauen huschte der Blick aus seinen kleinen, flinken Rattenaugen unstet umher. Der Mann trug einen gefütterten Baumwollumhang, der viel zu groß für seinen kleinen Körper war. In seiner pfotengleichen Hand hielt er das eine Ende eines Seils, das andere Ende war um den Hals eines riesigen, bedrohlich knurrenden braunen Affen mit rotem Gesicht geschlungen. Während der kleine, drahtige Mann die Bestie über die Brücke führte, zeigten die Passanten lachend und tuschelnd auf das
Weitere Kostenlose Bücher