Der Verrat
begegneten, waren so trist und bedrückend wie das Wetter. Sano schritt schneller aus, als seine Anspannung wuchs, denn das Gespräch, das er nun führen wollte, konnte sich als alles entscheidend erwiesen. Schließlich betrat er den eigentlichen Palast des Shōgun und ging weiter zu einem gesonderten Bereich, den er vor langer Zeit – einem halben Menschenleben, wie es ihm schien – das erste Mal betreten hatte.
Hier, verborgen in einem Labyrinth aus Gängen, den Schreibstuben von Regierungsbeamten und Empfangssälen, befand sich die Zentrale des metsuke . Der Geheimdienst der Tokugawa befand sich in einem Raum, dessen Kleinheit und Schlichtheit die Macht des metsuke Lügen strafte. In Abteilen, die durch Stellwände aus Holz und Papier voneinander abgetrennt waren, saßen Pfeifen rauchende Männer und betrachteten Karten, die an den Wänden hingen, diskutierten oder arbeiteten sich durch Berge von Papieren, die auf Schreibpulten lagen, auf denen sich Bücher, Schreibzeug und köcherförmige Behälter für Schriftrollen türmten. Als Sano an den Abteilen vorüberging, spürte er neugierige Blicke auf sich gerichtet und hörte, wie Stimmen zu einem Flüstern gesenkt wurden.
Im letzten Abteil kniete ein schwarz gekleideter Samurai. Er schaute von einem Hauptbuch auf, erblickte seinen Besucher und verneigte sich. »Ich grüße Euch, sōsakan-sama .«
Sano verneigte sich ebenfalls. »Ich freue mich, Euch zu sehen, Toda- san .«
Toda Ikkiyu war ein hoher Agent des Geheimdienstes – ein so unscheinbarer Mann, dass Sano ihn wahrscheinlich nicht wiedererkannt hätte, wäre er ihm anderswo begegnet. Mittelgroß, von mittlerer Statur und in mittlerem Alter war Toda ein Mann, der keinerlei Auffälligkeiten besaß, selbst seine Augen blickten müde aus einem farblosen Gesicht, dem in einer Menschenmenge niemand Beachtung geschenkt hätte. Sano hatte Toda schon bei mehreren früheren Fällen zurate gezogen; bei einer dieser Gelegenheiten hatte der Agent ihm am Beispiel eines Beamten, der des Hochverrats verdächtigt worden war, geschildert, wie er Bespitzelungen vornahm. Obwohl der betreffende Beamte im Palast gearbeitet hatte und Toda ihm jeden Tag mehrmals auf den Fluren begegnet war, hatte der Mann nicht bemerkt, dass Toda jeden seiner Schritte überwachte. Als man den Mann schließlich zum Richtplatz führte, hatte er nicht die leiseste Ahnung, wer für das Todesurteil verantwortlich war.
»Habt Ihr einen Moment Zeit für mich?«, fragte Sano und stellte sich unwillkürlich vor, eines Tages selbst die ahnungslose Beute des metsuke- Agenten zu sein.
»Gewiss.« Toda bedeutete ihm, sich neben ihn zu setzen. Seine schleppende Stimme und die bedächtigen Bewegungen täuschten über seine wache Intelligenz und seine Gerissenheit hinweg. »Ich nehme an, Euer Besuch hat mit Euren Ermittlungen im Zusammenhang mit dem Mord an Fürst Mitsuyoshi zu tun?«
»Ja«, sagte Sano.
»Und Ihr seid zu mir gekommen, weil man Euch mit Gerüchten und Mutmaßungen überschüttet hat.«
Sano musste lächeln. Es erstaunte ihn immer wieder, wie viel Toda wusste.
Der Agent des metsuke lachte leise. »Ich muss jedes Mal staunen, wie hoch Ihr im bakufu aufgestiegen seid, seit wir uns das erste Mal begegnet sind«, sagte er.
Sie hatten sich während Sanos Ermittlungen in seinem ersten Mordfall kennen gelernt, als Sano eine Verschwörung gegen den Shōgun aufgedeckt hatte und in den Palast gerufen worden war, um dem metsuke davon zu berichten.
»Es ist ein gewaltiger Sprung von einem Polizisten zum höchst ehrenwerten Ermittler des Shōgun«, sagte Toda. »Und dass Ihr dieses Amt nun schon vier Jahre innehabt, ist ein Wunder, wenn man bedenkt, in welchen Schwierigkeiten Ihr bereits gesteckt habt.«
»Ist es nicht ein ebenso großes Wunder, dass auch Ihr trotz Eurer vielen Probleme immer noch im Amt seid?«, konnte Sano sich eine Gegenfrage nicht verkneifen.
Toda hatte Sano die Geschichte über die Verschwörung gegen den Shōgun damals nicht geglaubt – mit der Folge, dass der Shōgun später den gesamten metsuke dafür bestrafte, die Bedrohung nicht ernst genommen zu haben. Agenten waren degradiert, verbannt oder hingerichtet worden, doch Toda war es irgendwie gelungen, ungeschoren davonzukommen. Sano hegte den Verdacht, dass es an Todas gefährlichem Wissen gelegen hatte: Toda kannte die Geheimnisse vieler führender Beamter des bakufu und hatte ihren Schutz und ihre Fürsprache erpresst.
Nun lächelte Toda selbstzufrieden. »Wir beide
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