Der Verrat
krächzend um irgendwelches Aas stritten. »Und ich habe den Verdacht«, fuhr Toda fort, »die Ermittlungen im Mordfall Mitsuyoshi sind Euch aus den Händen genommen.«
Hiratas Familie war im bancho zu Hause, jenem Stadtviertel im Westen des Palasts zu Edo, wo die hatamoto , die erblichen Gefolgsleute der Tokugawa, auf kleinen Anwesen wohnten, die von Zäunen aus lebendem Bambus umschlossen wurden. Wenngleich diese Gefolgsleute dem Klan des Shōgun lange Zeit treu gedient hatten, lebten sie in bestenfalls bescheidenen Verhältnissen. Viele fristeten ihr Dasein aber auch am Rande der Armut, denn den steigenden Preisen standen gleichzeitig sinkende Einkünfte gegenüber.
An diesem Tag wirkte die dichte Ansammlung halb verfallener Gebäude hinter den winterkahlen Bambuszäunen besonders trist. Inmitten anderer Samurai ritt Hirata durch die schmalen, schlammigen Straßen und Gassen. Schließlich schwang er sich vor dem Haus seiner Eltern, das zu den armseligsten im Viertel gehörte, vom Pferd.
Als er durch das schlichte Holztor trat, stellte Hirata fest, dass auf dem Hof vier Pferde standen, die prächtige Sättel und Zaumzeug trugen. Diese Tiere gehörten nicht seiner Familie. Drei von Hiratas kleinen Neffen rannten kreischend und lachend um das niedrige, verwitterte Gebäude herum. Hirata band sein eigenes Pferd fest und trat durch die Tür. Als er seine Waffen im Eingangsflur ablegte, erblickte er die prachtvollen Lang- und Kurzschwerter von vier Samurai, denen offenbar auch die edlen Pferde im Hof gehörten; neben den Schwertern der Besucher lagen die schlichten Waffen seines Vaters und Großvaters. Hirata betrat das Haus und stellte fest, dass es voller Menschen war, und es herrschte rege Betriebsamkeit. Hiratas Großmütter saßen im Wohngemach und rauchten, während sie auf die Kleinkinder Acht gaben, die in ihrer Nähe spielten. Aus der Küche erklangen das Klappern von Geschirr, die Gespräche der Hausmädchen und das Kreischen eines Säuglings. Jedes Mal, wenn Hirata hierher kam, erschien das Haus ihm kleiner und schmuddeliger. Heute war es obendrein bitterkalt, denn seine Familie musste an Feuerholz und Kohlen sparen. Als Hirata seine Großmütter begrüßte, überkamen ihn Schuldgefühle, dass seine Familie ein solch ärmliches Leben führte, während er selbst den Luxus von Sanos Villa genoss.
Hiratas verwitwete älteste Schwester kam zu ihm, den Säugling in den Armen. »Wie schön, dich zu sehen, Bruder«, sagte sie. »Vielen Dank für die Sachen, die du den Kindern geschickt hast.«
Dass Hirata den größten Teil seines Gehalts für die Familie ausgab, minderte nicht seine Schuldgefühle. Bevor er sich erkundigen konnte, wer zu Besuch gekommen war, rief die Stimme seines Vaters aus dem Wohngemach: »Bist du das, Sohn? Komm bitte her.«
Neugierig kam Hirata der Aufforderung seines Vaters nach. Im Wohngemach saßen seine Eltern sowie ein prunkvoll gekleideter Samurai mittleren Alters. In seiner Nähe knieten drei Männer in schlichteren Gewändern, offenbar seine Gefolgsleute. Hiratas Mutter servierte ihnen Tee, wobei sie ihr bestes Geschirr benutzte.
»Wie schön, dass mein Sohn noch gekommen ist, solange ihr mich mit eurem Besuch beehrt«, sagte Hiratas Vater zu den Gästen und wandte sich dann an seinen Sohn. »Du erinnerst dich sicher an den ehrenwerten yoriki Okubo.«
»Gewiss.« Hirata kniete neben seinem Vater nieder und verbeugte sich vor den Besuchern. Als Hirata selbst noch Polizeioffizier gewesen war, war yoriki Okubo sein unmittelbarer Vorgesetzter gewesen; schon Hiratas Vater hatte unter dem Vater Okubos gedient. Doch beide Familien waren einander nie persönlich nahe gekommen, sodass Hirata sich nun fragte, weshalb der yoriki erschienen war. Höflich sagte er: »Es ist mir eine Ehre, Euch wiederzusehen. Ich hoffe, es geht Euch gut.«
»Danke der Nachfrage.« Ein Lächeln legte sich auf Okubos fleischiges Gesicht, und er betrachtete Hirata mit prüfenden, anerkennenden Blicken. »Wie ich sehe, geht es Euch ebenfalls gut. Das Leben als oberster Gefolgsmann des sōsakan-sama scheint Euch zu bekommen.« Nachdem er sich bei Hirata nach dessen Pflichten erkundigt hatte, sagte Okubo: »Dass Ihr Euch die Zeit nehmt, an einem solch geschäftigen Tag bei Euren Eltern vorbeizuschauen, spricht für Euren guten Charakter.«
Hirata sah seinen Vater fragend an; der aber wich dem Blick des Sohnes aus und wandte sich an Okubo. »Mein Sohn achtet stets gewissenhaft darauf, sowohl den Pflichten
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