Der Verrat
hat diesen Bericht dann Mitsuyoshis Familie geschickt. Sein Vater war schockiert und strich ihm seine Geldzuteilung. Mitsuyoshi beschuldigte Nitta daraufhin, ihn zu einem armen Mann gemacht zu haben. Er glaubte, Nitta hätte das alles nur getan, damit er, Mitsuyoshi, sich die Nächte mit Wisterie nicht mehr leisten könne.«
Sie erreichten das Ende der Rennbahn, machten kehrt und gingen denselben Weg zurück, den sie gekommen waren. Die Krähen waren aus den Bäumen aufgeflattert und kreisten nun wie winzige schwarze Drachen über der Wiese. Ihr raues Krächzen klang überlaut in der Stille.
Sano dachte darüber nach, was ihm aufgefallen war: Toda hatte soeben der Behauptung Nittas widersprochen, Wisterie nicht zu lieben und deshalb auch nicht eifersüchtig auf ihre anderen Freier zu sein; auf der anderen Seite hatte Toda die Aussage Makinos bestätigt, des Vorsitzenden des Ältesten Staatsrats.
»Dann meint Ihr also, dass Nitta nicht nur Mitsuyoshi, sondern auch Wisterie ermordet hat?«, fragte Sano.
»Nicht er selbst. Ich glaube eher, dass er den Mord an Mitsuyoshi in Auftrag gegeben und für Wisteries Verschwinden gesorgt hat«, sagte Toda. »Nitta ist nicht der Mann, der sich die Hände schmutzig macht, indem er eigenhändig einen Mann ersticht und eine Frau entführt.«
»Könnte einer seiner Gefolgsleute die Drecksarbeit für ihn erledigt haben?«, fragte Sano.
»Unwahrscheinlich. Zwar sind sie Nitta treu ergeben, aber ich bezweifle sehr, dass ihr Gehorsam so weit geht, dass sie für ihn den Erben des Shōgun ermorden würden. Aber Nitta hatte Bekannte unter den Ganoven Yoshiwaras. Ich an Eurer Stelle würde einen genaueren Blick auf diese Halunken und Totschläger werfen.«
Sano nickte. Genau das würde er tun. Dennoch hatte er Zweifel an der umrisshaften Theorie, die er und Toda soeben entworfen hatten. »Falls Wisterie in dem Zimmer im Owariya ermordet wurde, in dem Mitsuyoshi starb, hätten wir bestimmt Spuren gefunden, aber wir konnten keine Hinweise entdecken, dass außer Mitsuyoshi eine zweite Person in dem Gemach getötet wurde. Und falls Wisterie entführt und an einem anderen Ort ermordet wurde, wo ist dann ihre Leiche?«
»Mir wurde gesagt, dass Ihr noch immer die Umgegend Yoshiwaras und die Fernstraßen absuchen lasst«, sagte Toda.
»Ja. Wir sind noch auf der Suche nach Wisteries Leichnam.«
»Vielleicht wurde sie in den Sumida geworfen oder in den Sanya-Kanal oder in eine der kleineren Wasserstraßen.«
Toda mochte Recht haben, doch eine innere Stimme sagte Sano, dass Wisterie noch lebte. Außerdem gab es einen handfesten Grund, an ihrer Ermordung zu zweifeln: die Aussagen in ihrem Tagebuch, in dem sie eine Szenerie schilderte, in der Schatzminister Nitta keine Rolle spielte; außerdem hatte Wisterie Andeutungen gemacht, aus eigenem Entschluss aus Edo verschwinden zu wollen, um woanders ein neues Leben zu beginnen.
Auf der anderen Seite wusste Sano, dass die Echtheit des Tagebuchs längst nicht erwiesen war. Und selbst wenn es echt war und Wisteries Eintragungen der Wahrheit entsprachen – die Seiten, die bisher vorlagen, waren nur ein Teil des Tagebuchs. Vielleicht war ihr namenloser Geliebter aus Hokkaido so eifersüchtig auf Wisteries Freier, wie es bei Schatzminister Nitta den Anschein gehabt hatte. Vielleicht hatte Wisteries geheimnisvoller Geliebter ihren letzten Freier – Fürst Mitsuyoshi – getötet, bevor er und Wisterie aus Yoshiwara geflüchtet waren.
»Es dürfte Euch interessieren, dass Schatzminister Nitta heute am frühen Morgen verhaftet wurde«, sagte Toda.
»Was sagt Ihr da?«, stieß Sano erstaunt hervor.
»Wegen seiner Unterschlagungen«, erklärte Toda. »Inzwischen müsste die Verhandlung gegen ihn begonnen haben.« Mit einem verschlagenen Lächeln fügte der metsuke- Agent hinzu: »Falls Ihr noch Informationen von Nitta benötigt, solltet Ihr Euch schleunigst zu Magistrat Aoki in dessen Gerichtssaal begeben.«
»Aber meine Ermittlungen sind noch nicht abgeschlossen! Nitta darf noch nicht verurteilt werden.« Sano wusste, welches Schicksal den Schatzminister erwartete. Dass er seine Strafe verdient hatte, konnte Sanos Entsetzen nicht mindern. Er blickte Toda an und sagte mit Nachdruck: »Ihr müsst die Verhandlung gegen Nitta aufschieben!«
»Tut mir Leid, aber diese Angelegenheit liegt nicht mehr in meinen Händen.« Toda zuckte die Achseln und betrachtete die Krähen, die sich auf der Wiese niedergelassen hatten, flatternd umherhüpften und sich
Weitere Kostenlose Bücher