Der Verrat
Zeit hätte zurückdrehen können, wäre ihm die Entscheidung nicht schwergefallen. Er hätte liebend gern alles hingegeben für einen einzigen Tag mit ihr. Die Jagd nach ihren Mördern war in den ersten neun Monaten nach ihrem Tod das Einzige, was ihn am Leben hielt. Danach hatte er es eine Weile mit Tabletten versucht. Zuerst wirkten sie auch einigermaßen; zumindest halfen sie ihm, Schlaf zu finden. Aber nach einem Monat begannen sie ihn verrückt zu machen, und so ließ er die Finger davon. An diesem Punkt stieg er aus. Er flog nach Paris, blieb eine Weile in der Schweiz und verschwand für zwei Monate von der Bildfläche. Er trank reichlich Alkohol und verbrachte eine Woche im Opiumrausch in Bangkok. Es gab sogar zwei Frauen zwischendurch, mit denen er schlief, doch die kurzen Affären verstärkten nur seine Schuldgefühle. Schließlich wachte er eines frühen Abends in einem Hotelzimmer in Kalkutta auf und schaltete Sky News ein. So erfuhr er von dem Anschlag auf die Wagenkolonne. Im Spiegel betrachtete er sein aufgedunsenes Gesicht und seine blutunterlaufenen Augen und wusste, dass er auf der Kippe stand. Entweder kehrte er zurück in die Staaten und machte sich wieder an die Arbeit, oder er würde sich zu Tode trinken. Sein tief verwurzelter Überlebenswille gab schließlich den Ausschlag.
Irene Kennedy war froh, ihn wiederzusehen, aber es stellten sich doch einige Fragen, und es gehörte nicht unbedingt zu Rapps Stärken, Fragen zu beantworten. Die CIA wurde ein bisschen unruhig, wenn ihr Top-Mann für Geheimoperationen einfach so verschwand. Das FBI war ebenfalls neugierig. Kennedy half ihm so gut sie konnte und erzählte allen, die es wissen wollten, dass Rapp einen längeren Urlaub genommen habe. Die meisten verstanden das nur zu gut. Der Tod seiner Frau hatte für großes Echo in den Medien gesorgt. Rapp hatte jedoch seine Feinde unter den Politikern und in den Behörden, und die wollten Antworten. Ziemlich unverblümt teilte Rapp ihnen mit, dass sie sich zum Teufel scheren sollten, was die Situation nur verschlimmerte. Letztlich war es der Präsident persönlich, der für ihn eintrat. Das Staatsoberhaupt wies energisch all jene zurecht, die Rapps Loyalität infrage stellten. Der Kalte Krieg war längst vorbei – und damit die Zeiten, in denen Agenten vom Feind abgeworben und zu Doppelagenten wurden. Im aktuellen Krieg ging es gegen den Terrorismus, und es war einfach absurd, anzunehmen, dass Rapp die Seite wechseln könnte.
All das passierte eine Woche vor der Wahl, und es waren Ross’ Leute in der National Intelligence, die den größten Ärger machten. Als Alexander und Ross noch das Unmögliche möglich machten und die Wahl gewannen, wussten Rapp und Kennedy, dass ihre Tage gezählt waren. Fast zwei Jahre zuvor hatte er Kennedy schon seine Befürchtung mitgeteilt, dass die Al Kaida möglicherweise bald Hilfe von außen in Anspruch nehmen könnte und einige ihrer Operationen von angeheuerten Killern durchführen lassen könnte. Die Terroristen hatten das Geld dafür und ein naheliegendes Motiv. Die USA und ihre Verbündeten hatten eine große Zahl von Terrorzellen ausgehoben, sodass die Al Kaida kaum noch über die nötigen Ressourcen verfügte, um in Amerika selbst zuzuschlagen. Der Anschlag auf den Konvoi zeigte jedoch, dass die Terroristen noch längst nicht besiegt waren. Irgendwie war es ihnen gelungen, einen spektakulären Anschlag mitten in den USA durchzuführen, und sie hatten noch dazu erstaunlich wenig Spuren hinterlassen. Nach Rapps Erfahrung bedeutete ein solcher Mangel an Hinweisen, dass ein Profi seine Hände im Spiel hatte.
Nirgends in den ersten Berichten hatte Rapp auch nur ein Wort über den geheimnisvollen Mann mit der roten Mütze gelesen. Er erfuhr erst von seiner Existenz, als er sich mit Special Agent Rivera unterhielt. Zuerst war Rapp verblüfft, dass der Unbekannte in keinem der Berichte erwähnt wurde, doch dann begann er zu verstehen, warum das so war. Rivera war anscheinend die Einzige, die den Mann bemerkt hatte. Er war von keiner Sicherheitskamera der umliegenden Geschäfte erfasst worden. Es gab keine Ärzte oder Sanitäter, die ihn nach der Explosion behandelt hätten. Er verschwand ganz einfach, oder, wie einige Ärzte der Special-Services-Agentin einreden wollten, er hatte überhaupt nur in ihrer Einbildung existiert. Sie hatte eine schwere Gehirnerschütterung erlitten. Es war leicht vorstellbar, dass sie einiges durcheinanderbrachte, wenn es darum ging, was
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