Der Verrat Der Drachen: Roman
bei der Geburt zu nehmen. Ich dachte lange Zeit, ich hätte ihn in jener Nacht, als ich dorthin ging, beleidigt – und doch bist du am Leben geblieben.« Sie musterte lange Shaans Gesicht. »Aber dennoch bin ich mir nicht sicher, ob ich nicht doch recht hatte. Da wären wir wieder …«
Shaan spürte, wie ihr ein seltsames, nervöses Gefühl die Wirbelsäule emporkroch, und Mailun wandte sich ab und hob einen alten Pfeil auf, dessen Befiederung schadhaft und abgenutzt war.
»Aber wer weiß«, sagte sie. »Rorc überlegt es sich vielleicht anders, wenn er aufwacht, und beschließt, dass wir eine andere Richtung einschlagen sollten. Er hat mich früher ständig überrascht; weshalb sollte es jetzt anders mit ihm sein?« Sie begann mit einem kurzen Messer, die Federn von dem Pfeil zu schneiden. »Sag mal, konntest du eigentlich schon immer heilen?«
»Ich habe den Schöpferstein berührt«, sagte Shaan in ausdruckslosem Ton. »Das hat mich beinahe umgebracht, aber« – sie zuckte die Schultern – »vor einiger Zeit habe ich die Fähigkeit entwickelt … Dinge zu bewirken.«
»Es ist eine nützliche Fähigkeit.«
»Für andere«, sagte Shaan. »Bei mir wirkt sie nicht.«
»Du kannst dich nicht selbst heilen?«
Shaan schüttelte den Kopf, und Mailun legte den Pfeil ab. »Du hast deinem Vater das Leben gerettet«, sagte sie. »Das ist keine Kleinigkeit.«
»Hoffen wir nur, dass er es nicht vergisst.« Sie wollte heiter klingen, doch es gelang ihr nicht, und Mailun umfasste fest ihre Hand.
»Was wirst du hinsichtlich des Tempels unternehmen?«, fragte sie leise.
Shaan zögerte; der Atem stockte ihr in der Kehle. »Ich weiß es nicht.«
Mailun betrachtete sie aus traurigen Augen, die von Reue erfüllt waren. »Ich wünschte, ich hätte Karnit in jener Nacht getrotzt«, sagte sie. »Ich wünschte, ich hätte gewusst, wohin dich das führen würde.«
»Glaubst du wirklich, dass das einen Unterschied gemacht hätte?«, fragte Shaan. »Ich habe das Gefühl, dass wir keine Wahl haben, als diesem Weg bis an sein Ende zu folgen – worin es auch bestehen mag.« Sie entzog ihrer Mutter sanft ihre Hand und stand auf. »Ich werde nachsehen, ob Tallis Hilfe braucht.«
Rorc schlief bis lange nach Sonnenuntergang und wachte für eine Weile auf, nachdem sie mit dem Essen fertig waren. Mailun ging zu ihm, um ihm etwas zu essen und Wasser zu geben, und er kam langsam aus dem Unterschlupf hervor, um sich ans Feuer zu setzen.
Er war blass, aber ein wenig Farbe war doch in sein Gesicht zurückgekehrt.
»Danke«, sagte er zu Shaan. Sie nickte unbeholfen. Aber das war alles, was er sagte; das überraschte sie. Sie hatte mit Fragen und Forderungen gerechnet, aber er hob nur seinen Wasserbecher und sagte: »Wir sollten morgen in aller Frühe aufbrechen. Wir werden zu den Jalwalah gehen; ihr Brunnen liegt näher.«
»Wie lange wird es dauern, dorthin zu gelangen?«, fragte Shaan.
»Einen Großteil des Tages«, antwortete Tallis ihr, »selbst auf den Drachen.«
»Wo sind die Drachen?«, fragte Irissa.
Tallis schwieg einen Moment lang, dann wies er nach Süden. »Da«, sagte er. Mailun und Irissa blickten in die Richtung, in die er zeigte, aber Rorc hielt, wie Shaan sah, das Gesicht weiterhin zum Feuer gerichtet und starrte mit nicht zu deutender Miene in die Flammen.
Später erwachte sie plötzlich, als ob sie von tief unter Wasser emporgedrückt würde, und setzte sich mit einem Luftschnappen auf. Sie hatten keine Zelte aufgeschlagen, falls ein weiterer Sandsturm sie traf, also hatte sie mit den Füßen nahe am Feuer gelegen. Die Asche war jetzt kalt und der Himmel über ihr sternenübersät, der Sand eine fahle, schattige Fläche, die sie wie ein ausgetrocknetes Meer umgab. Alle anderen schliefen. Sogar Tallis schnarchte leise in ihrer Nähe.
Shaan war sich nicht sicher, was sie geweckt hatte, aber sie glaubte, dass es ein Traum gewesen sein mochte. Sie konnte ihn jetzt nicht mehr ganz fassen, aber sie war in dem tiefen Eindruck zurückgeblieben, gerufen worden zu sein – als hätte jemand ihren Namen geschrien. Es war seltsam, dass Tallis nicht erwacht war. Aber schon als sie das dachte, ging ihr auf, dass sie seine Präsenz nicht recht spüren konnte. Es war, als würde ein feiner Schleier sie voneinander trennen.
Ihr Herzschlag beschleunigte sich; sie stand auf, drehte sich um und blickte in Richtung der Dünen. Sie wusste, warum sie erwacht war. Es war an der Zeit, zum Tempel zu gehen. Ihr Herz pochte
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