Der Verrat Der Drachen: Roman
am Gesicht abzulesen sein, da Männer, Frauen und Kinder ihm den Weg freimachten, während er Shaan die Straße entlang zum Markt führte.
Er drängte sich durch die Menge direkt auf einen kleinen Stand zu, an dem zwei Frauen mit dem Rücken zu ihnen standen.
»Mutter!«, rief er, und Shaans Brustkorb zog sich zusammen; sie bekam keine Luft mehr. Sie blieb stehen und entzog sich seinem Griff.
Die Frauen drehten sich um. »Tallis?«, rief die ältere Frau und schlang die Arme um ihn, während er sie eng an sich zog. Sie war größer als Shaan, aber nicht viel; ihr Haar war dunkel und glatt, ihre azurblauen Augen vor Überraschung weit aufgerissen. Die jüngere Frau umarmte Tallis nicht, sah aber aus, als ob sie mit sich rang, um sich davon abzuhalten, zu den beiden zu stoßen.
Shaan stand still direkt hinter ihnen, kalt vor Entsetzen. Warum hatte Tallis nicht gesagt, wen er gesehen hatte? Er musste gewusst haben, dass sie sie erkennen würde. Mailun. Ihre Mutter. Das Gesicht, das er ihr in seinem Geist gezeigt hatte. Sie hatte sich nicht richtig bewusst gemacht, dass ihre Mutter so echt war.
»Tallis, wer ist das?« Die jüngere Frau starrte Shaan an. Irgendetwas an ihr kam Shaan vertraut vor, aber sie war zu überwältigt, um sich zu erinnern, was es war. Und dann sah Mailun sie. Langsam entzog sie sich Tallis’ Umarmung und stand sehr, sehr still da.
»Mutter«, sagte er und legte Shaan eine Hand auf den Arm. »Das hier ist Shaan. Ich habe sie gefunden. Wir haben einander gefunden.« Er sah sie mit glänzenderen Augen an, als Shaan es je gesehen hatte, aber sie fühlte sich wie betäubt.
Mailun trat einen Schritt vor. »Ich würde dich überall erkennen«, sagte sie sanft.
Shaan fühlte sich wackelig, als wäre sie betrunken.
»Tallis, wer ist das?«, fragte die junge Frau.
»Irissa«, er lächelte, »das hier ist meine Schwester.«
Irissa? Shaan war verwirrt. Jareds Schwester. Was tat sie hier?
Mailun trat einen weiteren Schritt auf sie zu. »Tochter.« Sie streckte die Arme aus, als wolle sie sie umarmen, hielt dann aber inne und ergriff stattdessen ihre Unterarme.
»Ich wusste, dass du überlebt hast.« Sie zitterte vor unterdrückter Sehnsucht, und Shaan war plötzlich bis zum Ersticken von einer Regung erfüllt, die sie erschreckte. Sie wollte zulassen, dass Mailun sie umarmte, die Arme dieser Frau um sich herum spüren – aber jener harte, innere Kern, auf den sie zu zählen gelernt hatte, ließ das nicht zu. Sie war eine Fremde, und Shaan hatte vor langer Zeit aufgehört, auf eine andere Art Mutter zu hoffen. Sie versteifte sich, zog sich zurück.
»Meine Mutter hat mich hergebracht, als ich ein Säugling war«, sagte sie und bedauerte dann ihre Wortwahl, da Mailun zurückzuckte und sie losließ.
»Sie meint die Frau, die sie großgezogen hat, Mutter«, sagte Tallis rasch.
»Ich weiß, Sohn«, sagte Mailun, aber sie wandte die Augen nicht von Shaan ab. »Ich bin froh, dass eine andere dich am Leben gehalten hat, als ich es nicht konnte.«
Shaan wusste nicht, was sie sagen sollte, wurde aber von der jüngeren Frau gerettet, die ungeduldig vortrat. »Seit wann hast du eine Schwester, Tallis?«, sagte sie. »Und wo ist Jared?«
Shaan war froh, dass die junge Frau den Ausdruck nicht bemerkte, der über Tallis’ Gesicht huschte.
»Lasst uns von der Straße weggehen«, sagte er.
»Nein, du sagst es mir jetzt.« Irissa verstellte ihm mit wutverzerrtem Gesicht den Weg. Sie war ein hochgewachsenes Mädchen und offensichtlich daran gewöhnt, nicht klein beizugeben.
Shaans Herz setzte aus.
Tallis hielt inne, und als er sprach, war seine Stimme heiser. »Er wurde in einem Kampf verwundet. Ich musste ihn in den Wildlanden zurücklassen.«
»Was?« Irissa wurde plötzlich unter ihrer dunklen Haut blass. »Ist er am Leben?«
»Wir wissen es nicht; als ich ihn zurückließ, war er es noch.« Tallis schüttelte den Kopf; sein Blick wanderte zu seiner Mutter hinüber. »Wir konnten nicht umkehren und ihn holen.«
»Was meinst du damit?«, verlangte Irissa zu wissen. »Und wer ist ›wir‹?«
»Er meint mich«, sagte Shaan leise. »Ich war bei ihm.«
»Du?« Irissa wirbelte zu ihr herum. Ringsum begannen die Leute sie anzustarren, und ein paar dieser Blicke waren nicht gerade freundlich, aber Irissa schien das nicht zu bemerken.
»Warum?«, fragte sie. »Was habt ihr getan? Wie ist das geschehen?«
»Irissa«, sagte Mailun, »du erinnerst dich doch an einige der Geschichten, die wir hier auf
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