Der Verrat: Thriller (German Edition)
und Nahrung suchen. Ein Teil des Unterhaltungswerts beruht auf der Not dieser unglücklichen, in der Wildnis ausgesetzten Großstadtkinder.
Ich seufzte beim Gedanken an die erste Episode, die fassungslose Panik der Kandidaten, als sie merkten, dass ihre städtische Gewieftheit absolut nichts brachte. Ihr Abscheu vor der Natur, die Bestürzung darüber, wo Essen tatsächlich herkommt. Es war zugleich komisch und tragisch. Ihre Ahnungslosigkeit war peinlich. Sie wären wahrscheinlich besser klargekommen, wären sie auf dem Mars ausgesetzt worden.
Scarlett hatte zum ersten Mal bei den Zuschauern Eindruck gemacht, als sie auf eines der drei Highland-Rinder der Insel stieß. »Verdammte Scheiße«, hatte sie mit einer Mischung aus Schreck und Bewunderung ausgerufen. »Wer hätte gedacht, dass Kühe so groß sind?« Na ja, Scarlett, eigentlich die meisten von uns.
Während ich den Rest des Artikels überflog, schälten sich weitere Erinnerungen heraus. In dem Bunker hatte es nur sechs schmale Einzelbetten gegeben. Die erste Herausforderung bestand also darin, die Verteilung der Schlafplätze zu organisieren. Das war auch der Grund für den ersten Streit gewesen. Der Junge, dem ich den Spitznamen Captain Sensible gegeben hatte, weil er vernünftig war, hatte ein rotierendes System vorgeschlagen; da die unterirdischen Schlafräume keine Fenster hatten, würde das Tageslicht die, deren Schicht auf den Tag fiel, nicht stören. Die anderen hatten sich prompt über ihn lustig gemacht. Die Idee, sich die Schlafstellen zu teilen, hielten sie für attraktiv, bis sie die Betten tatsächlich ausprobierten und entdeckten, wie schmal sie waren und dass sie immer wieder herausfielen.
Scarlett hatte die Lösung gefunden. Unter den Vorräten, die sie bekommen hatten, waren auch Heuballen für das Vieh. »Wir können doch auf dem Heu schlafen«, hatte sie gesagt. »Wie im Weihnachtslied: ›auf Heu und auf Stroh‹. Das machen sie doch immer in alten Filmen, wenn sie auf der Flucht sind.«
»Und was sollen die Kühe fressen?«, warf Captain Sensible triumphierend ein.
»Na ja, sie fressen ja nicht alles auf einmal, oder?«, gab Scarlett zu bedenken und warf ihre dichte blonde Mähne zurück. »Und jede Woche wird ja einer von uns abgeschossen. Bis uns das Heu ausgeht, werden wir genug Betten haben.« Für jemanden, der den Anschein erweckte, unbegreiflich doof zu sein, war das ein überraschend überzeugendes Argument.
Aber ein solcher Geistesblitz war selten bei Scarlett. In der ersten Staffel von Goldfish Bowl war mir damals an Scarlett am meisten ihre Bereitschaft aufgefallen, jede Aufgabe anzunehmen, die Big Fish – die Stimme des alles steuernden Fernsehsenders – den Kandidaten aufgab, kombiniert mit ihrem gewitzten Blick für die Schwächen der anderen. Scarlett war eine Expertin darin, scheinbar Unterstützung anzubieten, während sie in Wirklichkeit ihre Mitbewerber schwächte. Man konnte kaum glauben, dass das eine absichtliche Taktik war, weil sie einem meistens außergewöhnlich unwissend vorkam. Beim ersten Versuch, eine budgetgerechte Einkaufsliste aufzustellen, bewies sie Fähigkeiten im Lesen, Schreiben und Rechnen auf dem Stand einer Sechsjährigen. Ihr Wissen auf dem Gebiet des Zeitgeschehens war erbärmlich. Sie war überzeugt, dass Premierminister Tony Blair der Sohn des Tänzers Lionel Blair und dass Bill Clinton noch Präsident der Vereinigten Staaten sei. (»Na ja, warum nennt man ihn President Clinton, wenn er nicht der Präsident ist?«) In Bezug auf Kinder, Kätzchen und Welpen war sie tränenselig und sentimental, bewies aber ein erschreckendes Unwissen, was Pflege und Umgang mit ihnen betraf. Bei den anderen Kandidaten des Goldfish Bowl war sie unbeliebt wegen ihrer Neigung, offen ihre Meinung zu sagen. Aber das Publikum mochte sie, weil sie das Talent hatte, den Nagel auf den Kopf zu treffen und das zu sagen, was die Zuschauer dachten. Sie bewunderten ihre Dreistigkeit. Und sie brachte die Leute zum Lachen, was bei Reality-Shows immer ein Bringer ist.
Sie war übergewichtig und nicht gerade hübsch, aber sie machte das Beste aus sich. Mit ihrem Haar und Make-up gab sie sich die gleiche Mühe, ob sie rausging, um Karotten zu suchen und auszubuddeln, oder ob sie vorhatte, im Aquarium mit Big Fish zu sprechen. Das Aquarium war der verglaste Raum im Mittelpunkt des Gebäudes, wo die Kandidaten zu Berichten über ihre Fortschritte, zu Nachbesprechungen und Anweisungen hinbestellt wurden.
Nach und nach
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