Der verruchte Spion
mit großer Wahrscheinlichkeit der älteste Mensch, den Willa je gesehen hatte. Ihr faltiges Gesicht glich einem Irrgarten, und auch ihre Hände, die übereinander auf dem vergoldeten Knauf ihres Gehstocks lagen, waren von Falten überzogen. Ihr kostbares Kleid aus lavendelfarbener Seide war so stark mit Perlen bestickt, dass Willa sich fragte, ob nicht ein Teil ihrer gebeugten Haltung möglicherweise
auf das Gewicht ihres eigenen Kleides zurückzuführen wäre.
Ihr schlohweißes Haar war kunstvoll um ihren Kopf geschlungen. In ihren wasserblauen Augen blitzte der Schalk. Sie zwinkerte Willa zu und schien mopsfidel.
Willa starrte die Alte einen Augenblick lang überrascht an. Errötend knickste sie vor beiden Damen und wartete darauf, dass sie sich vorstellten. Die Jüngere richtete sich steif auf und musterte Willa herablassend. »Wer bist du, und was hast du hier in meinem Haus verloren?«
Willa öffnete den Mund und wollte antworten, aber ihre Stimme ließ sie wieder im Stich.
Sie konnte nur stumm den Kopf schütteln und mit einer Hand auf ihren Hals deuten.
»Was bist du? Ein bettelndes Zigeunermädchen? Hammil! Hammil, komm sofort her und schaff das Bettlerpack hier fort. Wie kannst du es wagen, so etwas in mein Haus zu lassen?«
»Ach, Victoria, nun halt mal die Luft an.« Die ältere Frau war Willa entgegengeschlurft und strahlte sie an. »Hammil lässt keine Maus in dein Haus, wenn sie ihm nicht vorgestellt wurde. Sie muss jemand sein.« Sie lachte glucksend. »Ich hoffe, sie ist so lustig, wie sie aussieht. Ihr anderen seid solche Transusen.«
Sie trat näher an Willa heran und schaute zu ihr auf. »Nun, wie sieht es aus? Bist du lustig?«
Willa musste lächeln. Die Frau sah so gespannt aus wie ein kleines, faltiges Mädchen beim Auspacken eines Weihnachtsgeschenks. Willa nickte der Dame zu und grinste sie breit an.
Die Frau strahlte. »Oho! Wie wunderbar! Endlich habe ich jemanden zum Spielen. Du kannst jetzt gehen, Victoria, und mich mit meinem neuen Spielzeug allein lassen.«
»Das werde ich nicht! Meine liebe Tante Myrtle, niemals
könnte ich dich mit einer solch merkwürdigen Kreatur allein lassen. Hammil!«
»Raus, Victoria«, sagte Tante Myrtle sanft. »Oder ich streiche dich aus meinem Testament.«
Die Dame schnaubte empört, und ein nicht gerade freundlicher Ausdruck trat in ihre Augen. Willa erschauerte bei dem Blick, den die Dame Tante Myrtle zuwarf.
»Wenn du darauf bestehst, Tante. Ich werde Hammil jemanden an der Tür postieren lassen, für den Fall, dass die Kreatur dich angreift.«
Sie verließ den Frühstücksraum und knallte dabei ziemlich undamenhaft mit den Türen.
»Giftiges Weibsstück. Konnte sie von dem Moment an nicht leiden, als mein Neffe Randolph sie nach Hause gebracht hat.«
Willa hielt sich mit einem Kommentar zurück. In was für einem Irrenhaus war sie hier gelandet?
»So, hübsches Ding, wer bist du und warum kannst du nicht sprechen?«
Hmm. Wie sollte sie antworten? Wie beim Scharade? Aber es gab kein Papier und keine Tinte im Frühstücksraum.
Willa sprang ans Büffet und goss ihnen beiden eine Tasse Tee ein. In der Hoffnung, so einen kleinen Teil ihrer Stimme wieder zu erlangen, stürzte sie ihre Tasse heiß und ungesüßt hinunter.
Tante Myrtle wartete und nippte an ihrem Tee. Obgleich Willa beim Anblick ihrer hin und her schwingenden lavendelfarbenen Röcke vermutete, dass sie vor Ungeduld mit den Zehenspitzen tippte.
Willa versuchte sich zu räuspern. Gar nicht mal so schlecht. Sie hatte einen Ton herausgebracht. Tante Myrtle setzte sich erwartungsvoll auf.
»Also sprich, Mädchen!«
»Ich bin Willa Trent. Ich bin mit meinem Gatten hier.«
Ihre Stimme war belegt, schien aber ansonsten in Ordnung, solange sie sich nicht zu sehr anstrengte.
»Mr Trent? Nie von ihm gehört. Außerdem hat diese Familie keine Freunde. Außer diesem langweiligen Sir Danville.«
»Entschuldigung. Ich meinte, mit meinem Verlobten. Nathaniel.«
Tante Myrtles Tasse klapperte gefährlich auf ihrer Untertasse. Willa sprang herbei, um sie aus den zitternden Fingern der Dame zu retten.
»Thaniel? Thaniel heiratet?« Ihre blauen Augen füllten sich mit Tränen, und ihre knotigen Finger suchten nach ihrem Gehstock.
»Fühlt Ihr Euch nicht wohl, Madam? Soll ich jemanden herbeirufen?«
»Unsinn! Mir geht es gut. Aber hol Hammil!«
Willa sprang auf, aber Hammil betrat den Raum, bevor sie noch bei der Tür angelangt war. Er streifte sie mit einem finsteren Blick und beugte
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