Der verruchte Spion
Gabel ab. Plötzlich war sie sich gar nicht mehr so sicher, ob sie überhaupt Hunger hatte.
»Ja, Nathaniel?«
»Mein Vater ist krank.« Seine Stimme war so emotionslos, dass Willa seinen Schmerz umso deutlicher spürte. »Wenn wir geheiratet haben, werden wir erst einmal hier bleiben. Wenn ich wegginge, selbst nur um dich zu begleiten, und er …«
»Natürlich«, sagte Willa sanft. »Was immer du wünschst.« »Ich werde auch hier sein«, erklärte Myrtle mit fester Stimme. »Ich habe viel zu wenig Zeit übrig, um auch nur einen Augenblick an Victoria zu verschwenden. Aber mit Willa hier werde ich viel Spaß haben.«
Nathaniel seufzte. »Myrtle, benimm dich.«
»Warum?« Sie schaute ihn keck an, während sie kaute.
Nathaniel schüttelte den Kopf. »Na gut. Dann benimm dich eben nicht. Was kümmert es mich?«
Sie legte den Kopf schief. »Dummer Junge. Versuchst wohl immer noch zu retten, was nicht zu retten ist.«
Nathaniel blieb ihr eine Antwort schuldig. Stattdessen wandte er sich an Willa. »Hat man dir das Kleid gegeben?«
Sie sah ihn nachdenklich an. »Ja … Mylord.«
Als er seinen Titel aus ihrem Mund hörte, geschah etwas Merkwürdiges mit Nathaniel. Er hatte Schwierigkeiten, die beiden Welten in seinem Kopf zu vereinen.
Nathaniel und Willa unterwegs waren ein unkompliziertes Paar auf einer unkomplizierten Reise, bei der es nur darum ging, Meilen hinter sich zu bringen und Hindernisse zu überwinden. Hier jedoch war er Lord Reardon mit der Last seines Reichtums und seiner Schande. Willa mit ihrer verschlissenen Kleidung und ihrer tiefen Güte war in diesem Wirrwarr aus angehäufter Schuld und Untreue, die seine Familie darstellte, völlig fehl am Platz. Er wollte nichts sehnlicher, als sein süßes Mädchen auf die Straße zurückbringen, bevor die vergiftete Atmosphäre dieses Ortes ihr etwas anhaben konnte.
»Es ist sehr … hübsch.« Willa sah ernst aus. »Danke, dass du daran gedacht hast.«
»Gefällt es dir nicht? Ich dachte, das Blau würde dir stehen. Natürlich brauchst du noch andere Dinge. Wir beide sollten einen kleinen Einkaufsbummel unternehmen.« Er
freute sich nicht gerade darauf. »Es sei denn, du möchtest lieber nicht mit mir außer Haus gehen.«
Willa rollte mit den Augen. »Darauf kannst du Gift nehmen, dass ich mit dir gehe. Die Leute machen mir keine Angst.«
Wenn er Lord Treason geben sollte, dann sollten Willa und er sich so oft in der Öffentlichkeit zeigen wie möglich. Lord Treason würde seine Braut ohne irgendein Schamgefühl zum Einkaufen begleiten und genug Geld für sie ausgeben, um garantiert Aufsehen zu erregen.
Geld für Willa auszugeben klang gar nicht so schlecht. Er würde genügend Diener mitnehmen, um so etwas, wie ihnen in Wakefield passiert war, zu verhindern.
»Hast du das blaue Kleid gekauft, weil du glaubtest, es könnte mir gefallen?«, fragte sie nachdenklich. Ihre Stimme war immer noch kaum mehr als ein atemloses Flüstern. »Oder weil es mich aussehen ließe, als gehöre ich hierher?«
Nathaniel hielt inne. Er war sich nicht sicher über den Grund, aber die Frage schien ihr sehr wichtig zu sein. Er zuckte mit den Achseln.
Er konnte ihr nur die Wahrheit sagen. »Ich dachte, das Blau würde dir stehen.«
Sie musterte ihn schweigend. Dann stand sie auf und ging um den Tisch zu ihm. Sie nahm sein Gesicht in beide Hände, schaute ihm in die Augen und küsste ihn sanft auf den Mund.
»Eine exzellente Antwort.« Ihre Worte tanzten über seine Lippen. »Danke. Ich werde das Kleid voller Stolz tragen.«
Das schmerzhafte Verlangen von der Nacht zuvor, das nie wirklich gestillt worden war, überwältigte erneut seinen Körper. Er lehnte sich an sie, wollte noch ein bisschen von ihr kosten, doch sie war schon fort und ließ sich wenig später
ihm gegenüber am Tisch nieder. Er seufzte leise, dann schaute er vorsichtig zu Myrtle hinüber.
Das leichte Lächeln um ihre Lippen und das Funkeln ihrer Augen bestätigten ihm, dass ihr nichts entgangen war, weder Willas zärtliches Wesen noch seine eigene hungrige Reaktion.
»Interessant.« Sie lächelte vergnügt. »Sehr interessant.«
13. Kapitel
W illa machte sich auf die Suche nach Lily und fand sie in dem Raum, in dem Willa die letzte Nacht verbracht hatte, wo sie eifrig am Saum des blauen Seidenkleides arbeitete.
»Hallo, Miss. Ich bin fast fertig.«
»Danke. Nathaniel, ich meine, Lord Reardon wird mich heute Nachmittag zum Einkaufen begleiten, aber ich werde es wahrscheinlich trotzdem heute
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