Der verruchte Spion
Menschen in London lebten, aber da sie es jetzt selbst erlebte, nahmen ihr die Menschenmassen schier die Luft zum Atmen.
Der Krach war unglaublich. Das Klappern der Pferdehufe auf dem Kopfsteinpflaster, das Rattern und Quietschen von Kutschen und Fuhrwerken, die Schreie und das Trommeln der Straßenhändler – das alles vereinte sich in ihren Ohren zu einer nie vernommenen Kakophonie.
Es war überwältigend. Am liebsten wäre sie aus der Kutsche gesprungen und hätte jeden Winkel erkundet.
»Man gewöhnt sich daran«, bemerkte Nathaniel. Er beobachtete, wie sie von der einen Seite auf die andere rutschte, um ja nichts zu verpassen.
»Bist du daran gewöhnt?«
Er schaute sich um. »Ich war es einst. Jetzt nicht mehr.« Willa dachte an die Flut von Fragen, die ihr auf der Zunge brannten, hielt sich aber zurück. Jetzt war nicht der rechte Zeitpunkt.
Sie musste Nathaniel allein erwischen und ihn dazu bringen, ihr jede Einzelne ohne Ausschweife zu beantworten, damit die Löcher in ihrer gemeinsamen Zukunft gestopft waren. Bis dahin wollte sie die Stadt genießen und ihre Garderobe aufstocken.
Schließlich bogen sie in eine viel breitere Straße ein, die an beiden Seiten von teuer aussehenden Geschäften gesäumt wurde. Über den Läden waren die Gebäude noch drei oder vier Stockwerke hoch. Willa hatte noch nie etwas Derartiges gesehen.
Als sie aus der Kutsche stiegen, konnte sie sich nur mit Mühe zurückhalten, den Kopf in den Nacken zu legen und die Fenster weit über ihr zu bewundern. Doch die Läden mit ihren verführerischen und ungewöhnlichen Auslagen zogen zum Glück ebenfalls ihre Aufmerksamkeit auf sich.
Zuerst betraten sie ein Kleidergeschäft. Die Auswahl schien sehr begrenzt, bis Nathaniel der Eigentümerin eine Geldnote zuschob. Dann erschienen wie aus dem Nichts die herrlichsten Kleidungsstücke.
»Oh, Nathaniel. Die sind aber sehr teuer«, protestierte Willa. Deshalb wählte sie sorgfältig ein einfaches Morgenkleid aus klein gemustertem Musselin, das sie sich selbst verzieren wollte, aber Nathaniel gab es prompt an die Ladenbesitzerin zurück und wählte eines aus, das demjenigen,
das Daphne zum Frühstück getragen hatte, an Eleganz nicht nachstand.
»Das ist zu teuer.« Sie flüsterte, obgleich sie von dem Preis entsetzt war.
Nathaniel schaute sie nur neugierig an und legte ein weiteres, grün gestreiftes auf den Tresen. Und dann noch ein hübsches Ausgehkleid in türkisch Blau mit einer passenden Redingote.
»Wir fangen mit diesen hier an und werden noch mehr bestellen.«
Drei neue Kleider? Sie waren hinreißend. Willa lief das Wasser im Mund zusammen. Aber die Kosten? »Nathaniel, das ist einfach …«
Wollt Ihr nicht, dass Ihre Lordschaft stolz auf Euch ist?
Sie lächelte Nathaniel an. »Es ist einfach nicht genug«, sagte sie gut gelaunt.
»So gefällst du mir schon besser.« Er zwinkerte ihr zu, und nachdem ihre Maße genommen worden waren und er Anweisungen gegeben hatte, wohin die Kleider in ein paar Tagen geliefert werden sollten, nahm er sie am Arm und führte sie zum Handschuhmacher.
Zum Modisten.
Zum Schuster.
Und in einen Laden, wo Willa diskret hinter einem mit einem Vorhang abgetrennten Bereich unter der verbotensten und wunderbarsten Unterwäsche auswählen konnte, die sie sich jemals hätte vorstellen können.
Einige der Teile waren so unpraktisch, dass sie sich beim besten Willen nicht vorstellen konnte, wie man sie ohne Hilfe an- oder ausziehen sollte. Der Gedanke, dass Nathaniel ihr vielleicht beim Ablegen behilflich sein könnte, verursachte Willa einige hitzige Augenblicke, während sie den Blick fest auf die zarte Wäsche in ihren Händen heftete und sich ihrer Fantasie hingab. Oje.
Dann kam ihr in den Sinn, dass viele Frauen Zofen wie Lily hatten, die ihnen halfen. Nun, Willa hätte Lily nicht immer, deshalb bemühte sie sich, nur Dinge auszuwählen, mit denen sie ohne fremde Hilfe zurechtkam.
Es gab eine große Auswahl an Korsetten, die Willa neugierig betrachtete. Sie hatte viel davon gehört, aber da Moira sie für ungesund hielt, hatte Willa nie eins getragen. Obgleich sie gerne etwas graziler aussehen würde, musste sie zugeben, dass sie ein bisschen wie Folterwerkzeuge aussahen.
Es dauerte eine Weile, aber schließlich gelang es ihr, sich nicht für einfache Hemdchen und Höschen aus Batist zu entscheiden, oder für Nachthemden aus gepunktetem Musselin oder das einzige Paar Strümpfe ohne Verzierung. Stattdessen wählte sie feinste Spitze, Seide
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