Der verruchte Spion
verwirren, Lord Treason. Ihr entkommt mir nicht.«
Der Augenblick zog sich in die Länge und wurde nur von Sir Danvilles Keuchen und Victorias Jammern unterbrochen.
Willa weinte nicht, das wusste Nathaniel. Dafür war sie zu stark. Er zweifelte daran, ob ihre Augen auch nur geschlossen waren.
Nathaniel bewegte sich langsam näher an die Pistole heran. Er musste sichergehen, dass kein anderer von dem Schuss getroffen wurde. Näher. Noch näher.
Dann machte er einen Satz nach vorn, als er aus den Augenwinkeln eine Bewegung erhaschte. »Nein!«
Ein stämmiger Bursche sprang vor und umklammerte Ren und fiel mit ihm gegen das riesige Sideboard aus Mahagoni, an dem sich Ren heftig den Kopf stieß. Die Pistole flog aus seiner Hand. Nathaniel eilte vor, um Ren aufzufangen, als dieser kollabierte.
Nathaniel ließ Ren vorsichtig auf den Boden nieder. Benommen und bebend versuchte dieser ihn abzuwehren. »Nimm deine Finger weg, du Bastard!«
Nathaniel nahm Ren bei den Schultern und zog ihn nahe an sich heran. »Ren, es war nicht James«, zischte er dringlich in Rens Ohr. »Es war niemals James.«
Ren hörte auf, sich zu wehren, und blinzelte Nathaniel verwirrt an.
Als der Bursche kam, um Ren fortzuschaffen, beugte sich Nathaniel noch einmal zu ihm vor.
»Es war nie James. Es war Jackham.«
Dann stand er auf und erlaubte seinen Männern, sich um Ren zu kümmern. Kreidebleich und fast bewusstlos hing Ren in ihrem Griff wie eine Lumpenpuppe.
»Bringt ihn hoch in ein Bett«, befahl Nathaniel. Er ergriff den größten Diener am Kragen. »Vorsichtig.«
Der Mann schluckte und nickte. Nathaniel schaute ihnen kurz hinterher, um sicherzugehen, dass seine Anweisung befolgt wurde. Dann wandte er sich um und sah den Raum voller neugieriger Bediensteter.
»Hammil, schick nach einem Arzt für meinen Freund.«
Nathaniel baute sich vor dem Mann auf und schaute ihn scharf an. »Sofort. Verstanden?«
Hammil wich seinem Blick aus, unfähig, der unausgesprochenen Drohung zu begegnen. »Selbstverständlich, Mylord.«
»Oh, nein, du wirst diesem Kriminellen nicht erlauben, hier zu bleiben!« Victoria trat mit einem puterroten Sir Danville im Schlepptau vor. »Das erlaube ich nicht!«
»Reg dich ab, Victoria.« Myrtle machte ein paar Schritte vor. »Kümmer dich lieber um dein Schoßhündchen, Liebste. Ich glaube fast, er erleidet gerade einen Anfall. Willst doch wohl nicht, dass er jetzt schon das Zeitliche segnet, oder?«
Victoria drehte sich um und erkannte, dass Sir Danville tatsächlich große Schwierigkeiten hatte. Sein rundes Gesicht hob sich krebsrot von seinen vollen, weißen Koteletten ab, und er hielt eine Hand auf die Brust gepresst.
»Oh, nein. Stanley? Oh, Lieber. Hammil! Hammil, lass sofort einen Arzt kommen! Bring etwas Wasser in den Salon!«
Nathaniel schaute zu, wie seine Mutter dem abwesenden Hammil Anweisungen zukreischte, während sie Sir Danville in den Nebenraum bugsierte, wo das einzige Sofa stand, das groß genug für den Mann war.
Und dann verlor Nathaniel fast den Boden unter den Fü ßen, denn Willa warf sich einer Kanonenkugel gleich an seine Brust. Sie schlang ihre Arme so fest um seinen Hals, dass er kaum noch Luft bekam. Bebend drängte sie sich an ihn. Er nahm sie in die Arme und hielt sie fest. »Schschsch … Es ist ja alles vorbei.«
Nach einer Weile schüttelte Willa den Kopf, löste sich aus seiner Umarmung und schaute ihm ins Gesicht. »Nathaniel, was geht hier vor? Wer ist dieser Ren Porter?«
Nathaniel erstarrte. Bei dem ganzen Tohuwabohu war
ihm gar nicht aufgefallen, dass Ren die Existenz der Liars verraten hatte. Ohne sie anzusehen, sagte er: »Ren ist nichts weiter als ein Patriot, der wütend auf einen Verräter ist.«
»Aber …«
»Mylord«, rief einer der Diener von der Tür aus. »Ich habe nach einem Arzt für Sir Danville geschickt. Und nach einem für … äh …«
»Mr Lawrence Porter.« Nathaniel schritt zur Tür, wobei er Willas Blick auswich. »Wir … wir werden das später besprechen.«
Willa schaute zu, wie Nathaniel geradezu aus dem Zimmer rannte. Sie verschränkte die Arme.
Nathaniel Stonewell, Lord Reardon, hatte ihr beileibe nicht alles erzählt, oder? Nicht über seine Familie und auch nicht über Ren Porter. Sie fragte sich, wie viele andere Dinge sie noch auf die harte Tour erfahren würde.
Nathaniel schüttelte dem Arzt die Hand, als er ihn an der Tür verabschiedete. Es war eine schreckliche Stunde gewesen, in der er dem Mann bei Ren geholfen hatte.
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