Der verschlossene Gedanke
Begegnung mit Kenny hat er sich mehr als einmal die Frage gestellt, was für ein Sinn in der Suche nach dem Ursprung seiner Gedanken liegt. Er hat dem Mörder von Liliana Auge in Auge gegenüber gestanden, dessen ist er sich sicher. Und doch hat es ihm nicht weitergeholfen. Er hat keinerlei Beweise und im Grunde interessiert es ihn auch nicht sonderlich, so lange er nicht weiß, wie er die fremden Gedanken loswerden kann. Er hatte sich von der Begegnung mit dem Eigentümer der Gedanken endlich Klarheit erhofft und doch verfolgen ihn die fremden Bilder noch immer. Rücksichtslos drängen sie sich in sein Bewusstsein und lassen nur noch wenig Platz für eigene Gedanken. Beim Aufwachen, im Schlaf, beim Schreiben. Ist er dazu verdammt, verrückt zu werden? Schleichend aber sicher den Verstand zu verlieren?
„ Nicht immer liegt es allein in unserer Hand“, antwortet er.
„ Typisch Oskar. Philosoph in jeder freien Minute.“
„ Glaub mir, Gaby. Ich wäre froh, wenn ich nur halb so viel nachdenken würde.“
„ Aber vermutlich wärst du dann auch nicht mehr du selbst.“ Sie lächelt.
Er dreht sich um und wirft einen Blick auf den Bildschirm. Die letzten Zeilen springen ihn vorwurfsvoll an. Worte hatten das Unausweichliche schon viel zu lange hinausgezögert. Nun war es an der Zeit zu handeln.
Die Zeilen vor seinen Augen werden zu Visionen. Ein Foto von Liliana, das dessen Betrachter mit zitternden Händen hält. Schmerz. Unendlicher Schmerz. Sie nur einmal noch berühren. In meinen Armen halten. Warum hat sie das alles notwendig werden lassen? Warum hat sie die Dinge nicht so gelassen, wie sie waren? Sehnsucht und trotz des Verlustes noch immer Begehren. Unendliches Begehren. Sein Herz passt sich dem Schlag des Denkenden an. Ein Finger, der über das Foto streicht. Warum nur, Lilli? Warum?
„ Oskar!“ Ihre Stimme erreicht ihn aus scheinbar unendlicher Ferne.
„ Ja?“
„ Himmel, wo steckst du nur wieder mit deinen Gedanken? Du hast ins Leere gestarrt, als würdest du nichts mehr um dich herum mitkriegen.“
„ Ich … Tut mir leid. Was ist denn?“
„ Zum dritten Mal: Soll ich uns einen Tee kochen?“ Ihr Blick scheint in das Gesicht eines Fremden zu schauen.
„ Gerne“. Er ringt sich zu einem Lächeln durch. „Tee wäre schön.“
________
„ Bist du dir sicher, dass das eine gute Idee ist?“, fragt Lennard, während er den Gurt ins Schloss steckt.
„ Im Grunde habe ich gar keine andere Wahl.“ Oskar startet den Motor. „Wirf mal einen Blick ins Handschuhfach.“
Lennard öffnet die Klappe und zieht einen Zettel heraus. „Kenny Lasner, Wassertorviertel 14b“, liest er.
„ Nein, nicht der. Da muss noch ein anderer liegen.“
Er fischt ein weiteres Stück Papier heraus. „Halt dich aus Dingen raus, die dich nichts angehen, wenn dir dein Leben lieb ist.“ Lennard schaut ihn fragend an.
„ Und genau deshalb muss ich zu ihr“, sagt Oskar.
„ Ich glaube nicht, dass Gaby begeistert davon wäre, wenn sie wüsste, dass du dich heimlich mit einer Anderen triffst.“
„ Sie könnte genauso gut ein Mann sein“, sagt Oskar. „Ihr Geschlecht spielt hier ebenso wenig eine Rolle wie die Tatsache, dass ich sie heimlich treffe. Sie ist die Einzige, die mir helfen kann. Die Einzige, die Liliana kannte.“
„ Und dieser Zettel?“ Lennard wirft erneut einen Blick auf das Papier in seinen Händen.
„ Hing hinter dem Scheibenwischer. Heute Morgen.“ Oskar biegt auf die Auffahrt zur Westtangente. „Und deshalb muss ich auch zu ihr. Sie ist die Einzige, die etwas wissen könnte.“
„ Und jetzt klingelst du einfach bei ihr und gut?“
„ Wir treffen uns in Barneys Bierscheune .“
„ Die schummrige Kaschemme, in der wir neulich schon einmal waren?“
„ Genau.“
Der Laden ist nahezu leer, als sie ihn betreten. Es ist früh am Abend. Sie sitzt an einem Vierertisch am Fenster, zwischen den Händen ein Wasserglas. Sie nickt Oskar zu, als sie hereinkommen.
„ Sie kommen in Begleitung“, stellt sie fest.
Oskar zieht einen der Stühle vom Tisch. Lennard setzt sich auf die Sitzbank unter dem Fenster.
„ Ja“, antwortet er. „Das ist Lennard Kinzel, mein Lektor.“
„ Tanja Bruckheimer“, antwortet sie knapp.
„ Lennard begleitet mich. Jeder Alleingang könnte im Moment gefährlich werden.“
„ Inwiefern?“
„ Ich habe Ihnen am Telefon doch von der Nachricht erzählt.“
Sie nickt. „Richtig, die Nachricht. Haben Sie sie dabei?“
Oskar zieht den
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