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Der verschlossene Gedanke

Der verschlossene Gedanke

Titel: Der verschlossene Gedanke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nancy Salchow
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eigentlich? Das alles klingt ziemlich verwirrend.“
    „ Das habe ich doch schon tausendmal versucht, dir zu erklären, Lennard“, sagt Oskar.
    „ Sehen Sie.“ Sie macht eine Handbewegung in Lennards Richtung. „Genau das ist es, was ich meine. Wieder jemand, der mehr weiß, als er sollte. Wieder jemand, der zur Gefahr werden könnte.“
    Oskar kann sich trotz der seltsamen Situation ein Lachen nicht verkneifen. „Lennard? Das ist nicht Ihr Ernst.“
    „ Warum nicht?“ Sie wirft Lennard einen skeptischen Blick zu.
    „ Weil ich Lennard schon eine Ewigkeit kenne“, antwortet Oskar. „Er ist nicht nur mein Lektor, sondern auch mein bester Freund. Und wenn ich jemanden brauche, um mich sicher zu fühlen, dann ihn.“
     
     
    ________
     
     
    Mit dem Öffnen des Sicherungskastens verlässt ihn der Gedanke, der ihn hergeführt hat. Der Hausflur riecht nach Bohnerwachs, auch wenn er nicht den Eindruck erweckt, in letzter Zeit gereinigt worden zu sein. Er greift nach einem Schlüssel in der unteren Ecke des Kastens. Wie bringt ihn das weiter? Warum ist er hier? Und wie ist er hergekommen?
    Plötzlich fällt es ihm wieder ein. Inmitten der Auswertung seiner Aufnahmen auf dem Diktiergerät und deren Einarbeitung in sein neuestes Kapitel hatte ihn der Drang überkommen, einem Gedanken zu folgen. Eine Spur, die sich ihm aufzeigte wie der Weg nach Hause. Keine Frage nach dem Grund. Er wusste, wohin er musste. Genau wie seine Fahrt zur Schule und zum Maisfeld. Genau wie das Aufsuchen von Lilianas Wohnviertel.
    Er schaut sich um. Dasselbe Haus, das er bisher nur von außen gesehen hat. Kein Zweifel. Hier hat sie gewohnt. Ob die alte Frau von neulich auch zu Hause ist?
    Beim Blick nach rechts fällt ihm das Namensschild unter dem Klingelknopf auf. L. Falkner. Er steckt den Schlüssel ins Schloss und öffnet die Tür.
    Eine Mischung aus abgestandener Luft und Schimmel weht ihm entgegen. Instinktiv geht er in das erste Zimmer, um ein Fenster zu öffnen. Er schaut sich um. Die Küche. Zwei einfache Hocker an einem ovalen Metalltisch. An der Wand eine Spüle auf einem Unterschrank, darüber ein weißes Board mit Kaffeedosen und einem offenen Behälter für Nudeln. Auf dem Tisch eine benutzte Tasse.
    Er verlässt den Raum und erspäht vom Flur aus ein Zimmer, das den Eindruck erweckt, Schlaf- und Wohnbereich in einem zu sein. Das einzige Zimmer neben Küche und Bad. Beim Betreten des Raumes überkommt ihn ein merkwürdiges Gefühl der Vertrautheit. An den Fenstern entdeckt er die Fischernetze wieder. Angeklebte Muscheln an den Scheiben. Davor der Schreibtisch. Ohne Zweifel: Das Zimmer aus seinen Gedanken.
    Instinktiv öffnet er eine der Schubladen, dann die zweite. Quittungen, Rechungen, Zahlungserinnerungen. Er sucht nach etwas Persönlichem. Briefe, Bilder. In einem schmalen Wandschrank entdeckt er schließlich einen unscheinbaren Karton mit Fotos. Er setzt sich auf das Sofa und nimmt den Deckel ab.
    Das erste Bild zeigt ihr Gesicht in einer Nahaufnahme. Regungslos starrt er es an. Sie macht einen Kussmund für den Fotografen, die Finger an die Wangen gepresst. Ein albern unterdrücktes Kichern ist regelrecht zu hören. Wie schön sie ist. Immer wieder derselbe Gedanke, der ihm durch den Kopf geht. So schön, ohne makellos im eigentlichen Sinne zu sein. Und dennoch trifft ihr Blick ihn bis ins Mark. Die weichen Lippen. Die dunklen Augen, denen nun nichts Fremdes mehr anhaftet. Er kennt sie. Jeden Teil ihres Gesichtes.
    Er schiebt es hinter das nächste Foto. Liliana Arm in Arm mit einer Freundin. Es scheint ein älteres Bild zu sein. Er schätzt sie auf höchstens Zwanzig, beide Mädchen auf einer Motorhaube sitzend, in den Händen Zigaretten, an denen sie theatralisch ziehen. Beim Durchstöbern der Fotos, die Liliana meist allein in irgendwelchen Posen zeigen, fällt ihm ein Schnappschuss mit ihr und Tanja in die Hände. Bis auf ihre Gesichter und den Ansatz ihrer Arme ist nichts zu sehen. Sie scheinen es selbst gemacht zu haben, die Kamera vor sich haltend. So nahe nebeneinander erinnert ihn Tanja kaum mehr an Liliana. Ihre Ähnlichkeit scheint nur in seinen Gedanken vorhanden. Nur die Augen sind dieselben. Dunkel wie die Nacht. Durchdringend wie ein Stich ins Herz. Sie lächeln, als hätten sie etwas zu verbergen. Ein Geheimnis, das sie in schwesterlicher Freundschaft miteinander teilen. Wie der gemeinsame Diebstahl von Kaugummi im Supermarkt, der unentdeckt geblieben ist. Freundinnen, die kompromisslos zueinander

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