Der verschlossene Gedanke
stehen.
Er lässt das Bild auf seinen Schoß fallen. Für einen Moment gelingt es ihm, sich in Tanja hineinzuversetzen. Wie muss sie sich fühlen, so im Unklaren über Lilianas Aufenthaltsort, ihr Befinden zu sein? Und wie furchtbar muss die Erkenntnis sein, sie in sicher nicht allzu ferner Zukunft tot zu wissen?
Gerade als er den Karton wieder schließen will, entdeckt er ein weiteres Bild. Kenny und Liliana. Sie umarmt ihn seitlich, während er die Hände in die Hüften stemmt. Eine seltsame Geste. Und eine seltsame Haltung für ein Foto. Sie lächelt in unschuldiger Zuneigung, während er zur Seite schaut, als würde ihn etwas am Rande des Geschehens wesentlich mehr interessieren. Ein flüchtig aufgenommenes Foto, für das lediglich Liliana versucht hat zu posieren. Sie scheint nicht viel jünger zu sein als in seinen Visionen. Ein aktuelles Bild, vermutet Oskar.
Unter dem Foto, es ist das letzte im Karton, entdeckt er ein kleines Stück Papier. Er faltet es auseinander und beginnt zu lesen. Liebe Lilli, es tut mir leid, dass wir gestern im Streit auseinander gegangen sind. Bitte lass uns die Dinge so beibehalten wie bisher. Alles ist gut so wie es ist. Nur mit dir kann ich wirklich glücklich sein. Bitte mach das nicht kaputt. Ich liebe dich.
Viel weniger über den Inhalt als über die Handschrift erschrocken lässt er den Brief fallen. Er ist sich sicher. Dieselben geschwungenen Schnörkel wie auf dem Zettel an seinem Scheibenwischer. Dieselbe Handschrift. Aber wie soll er beweisen, dass Kenny hinter alldem steckt? Und wer würde ihm glauben?
Er faltet den Zettel und steckt ihn zurück in den Karton, die Bilder legt er obenauf. Auch wenn er weiß, dass Liliana nicht in ihre Wohnung zurückkehren wird, verspürt er den Drang, alles in seinen Ursprungszustand zu versetzen. Sicher ist sicher. Er stellt den Karton zurück in den Schrank. Es ist Zeit zu gehen. Wenn ihn Kennys Gedanken zum Versteck des Schlüssels geführt haben, muss es auch Kenny sein, der den Schlüssel schon mal benutzt hat. Und vielleicht wird er es wieder tun. Je früher Oskar geht, desto besser. Zumindest so lange er keinen Plan hat.
Kapitel 8: Anders
Glänzende Haut zwischen weißen Laken. Finger, die sich ihren Weg über Beine und Bauch zum Busen erarbeiten. Kein Zentimeter zwischen ihnen. Nur Wärme. Ihre Lippen sind leicht zu einem Lächeln geöffnet, die Augen geschlossen. Sein Mund berührt ihre Schenkel und zieht weiche Konturen bis zu ihrem Hals. Nichts ist begehrenswerter als ihr Körper. Keine Belohnung größer als Finger, die durch ihr Haar gleiten. Sehnsucht nach jedem Millimeter ihrer Haut. Er spürt ihr Lächeln, ohne aufzuschauen. Sie ist bei ihm. So nah wie man nur sein kann.
Sie öffnet ihre Augen, als er ihren Hals erreicht. Das Vertrauen in ihrem Blick ist unverkennbar. Liebe. Vor allem aber Begehren. Er kommt näher, um ihre Lippen zu berühren.
Ein Türknall. Oskar sitzt mit einem Schlag aufrecht im Bett. Was ist geschehen? Langsam rücken die Sinne nach. Er schaut auf die leere Betthälfte neben sich. Er wirft die Decke zur Seite und steht auf.
In der dunklen Küche am Tisch sitzend findet er sie. Das glühende Ende einer Zigarette ist das einzige Licht im Raum.
„ Du rauchst?“
„ Eigentlich nicht“, antwortet sie. „Und das allein sollte dir Grund zu denken geben.“
Er setzt sich auf den Stuhl ihr gegenüber. „Was ist los? Ich hab die Tür knallen hören.“
„ Ich weiß nicht, wie lang ich das noch aushalte, Oskar.“ Sie zieht den Bademantel vor der Brust zusammen.
„ Wovon redest du?“
„ Es ist die dritte Nacht, in der du von ihr sprichst. Du hast früher nie im Schlaf geredet.“
„ Von ihr?“
Sie nimmt einen tiefen Zug von ihrer Zigarette, dann legt sie sie in die Rille des Aschenbechers. „Von Lilli.“
Den Namen aus ihrem Mund zu hören, lässt ihn zusammenzucken. Er fühlt sich ertappt ohne wirklich zu wissen wobei.
„ Es ist nicht, wie du denkst.“
„ Wer ist sie? Und was hat es zu bedeuten, dass du ständig Warum nur, Lilli, warum? von dir gibst?“
„ Ich“, beginnt er. „Ich kann dir wirklich nicht sagen, woran es liegt, Gaby. Wie du schon sagst, ich bin einfach überarbeitet. Die Arbeit an meinem Manuskript nimmt mich vermutlich doch mehr mit, als ich gedacht hätte. Anscheinend träume ich sogar schon von meinem Roman, ohne es zu merken.“
Sie lächelt zynisch. „Und warum murmelst du dann nicht den Namen Michelle? Immerhin ist sie deine
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