Der verschlossene Gedanke
wieder findet, erkennt er nur an den Garderoben und den Kinderzeichnungen an den Wänden, dass er in einer Schule ist. Hinter geschlossenen Türen vernimmt er Stimmen. Klassen im Unterricht. Ansonsten ist alles still. Was hat ihn hergeführt? Wieder eine dieser Eingebungen, die es sich selbst aussuchen, wohin sie ihn bringen, um ihn dann am Ziel allein zu lassen?
Er folgt der Beschilderung zum Sekretariat. Vielleicht kann man ihm dort weiterhelfen. Der Geruch von Kreide und Bohnerwachs begleitet ihn.
Vorsichtig öffnet er die Tür. „Guten Tag.“
Ein mürrisches Gesicht, das hinter einem rosa Brillengestell aufschaut. „Tag.“
„ Ich bin auf der Suche nach Liliana.“ Niemand weiß, dass sie tot ist, redet er sich verunsichert ein. Und wenn, dann weiß niemand, dass er es weiß. Die Frage nach ihr ist also berechtigt. Wenn auch vielleicht nicht an diesem Ort.
„ Liliana?“
Unsicherheit überkommt ihn. Hoffentlich fragt sie nicht nach ihrem Nachnamen.
„ Ja. Ich dachte, ich könnte sie vielleicht hier finden.“
„ Die war schon lange nicht mehr hier.“
„ Also kennen Sie sie?“
Die Sekretärin ist kurz angebunden. „Sie war oft nach dem Unterricht hier und hat den Grundschulkindern vorgelesen.“
Vorgelesen. Das Bild, das er von ihr hat, bekommt ein neues Puzzleteil. Eine Wohltätige? Die nette junge Frau von nebenan? Die Tat erscheint ihm nun noch grausamer. Wer bringt so jemanden um?
„ Lesen außer ihr noch andere vor?“
„ Keine Ehrenamtlichen, falls Sie das meinen. Liliana ist eine Freundin von Frau Bruckheimer. Deshalb ist sie öfter hier und kümmert sich um die Kleinen, während sie auf sie wartet.“
„ Frau Bruckheimer?“
„ Unsere Direktorin. Sagen Sie mal, wer sind Sie eigentlich?“
„ Nur ein Freund.“
Ihr Blick ist skeptisch.
„ Und diese Frau Bruckheimer. Wo finde ich die?“
„ Frau Bruckheimer ist im Urlaub. Wenn Sie Fragen haben, wenden Sie sich bitte an die stellvertretende Direktorin Frau Armonat.“
„ Nein, schon in Ordnung. Ich müsste mit Frau Bruckheimer persönlich reden.“
„ Ich dachte, Sie sind wegen Frau Falkner hier?“
„ Frau Falkner?“
„ Liliana Falkner. Sagen Sie, stimmt etwas nicht mit Ihnen? Erst fragen Sie nach ihr, dann kennen Sie ihren Namen nicht. Dann wollen Sie plötzlich zu Frau Bruckheimer.“
„ Ähm. Doch, alles in Ordnung. Ich bin ... nur etwas spät dran. Habe noch einen Termin.“
Sie traut ihm nicht. Das ist unverkennbar. Glücklicherweise sind seine Gedanken, weder seine eigenen noch die fremden, nicht durchschaubar. Niemand scheint die Geschichte zu kennen. Niemand außer ihm und dem Täter.
„ Ich danke Ihnen.“ Er verabschiedet sich und verlässt den Raum.
Liliana Falkner. Ihr voller Name. Ein neues Indiz. Nur was nützt es ihm? Vielleicht weiß diese Frau Bruckheimer mehr. Auf der Suche nach ihrem Büro schleicht er über die Flure. Vielleicht ist auf ihrer Tür auch ihr Vorname vermerkt. Ein vollständiger Name erleichtert seine Suche nach ihrer Anschrift.
Er wundert sich über den unerwartet harmlosen Ort, an dem er sich befindet. Eine Schule. Was hat eine Frau, die in einer schummrigen Kneipe wie Barneys Bierscheune arbeitet, an einem so friedlichen Ort zu suchen? Und welche Rolle spielt diese Direktorin?
Er spielt mit der Vorstellung, die Sache auf sich beruhen zu lassen. Keine Suche mehr. Keine Fragen. Er hat wahrlich genug zu tun. Das Manuskript schreibt sich nicht von alleine. Aber wie wird er diese verwirrenden Gedanken los? Die Bilder, die jemand anderem gehören? Wie soll er sich jemals wieder vorbehaltlos dem Schreiben widmen, wenn er die Ideen für seinen Roman nicht mehr von den seltsamen Eingebungen unterscheiden kann?
Genauso wenig kann er sich jemandem anvertrauen. Wenn Lennard ihn für verrückt hält, wird ihm die Polizei erst recht nicht glauben, ihn am Ende vielleicht sogar für den Täter halten. Woher sonst sollte er all die Dinge über den Mord wissen? Und dann? Unschuldig im Gefängnis und für immer dazu verdammt, sich mit den Gedanken Fremder zu quälen. Der Körper gefangen. Der Verstand gefangen. Er streift sich mit den Fingern übers Gesicht. Wach werden, Oskar. Du musst wach werden. Endlich wieder klar denken. Und vor allem: selbst denken.
Wie auf Befehl sind sie wieder da. Die fremden Gedanken. Die fremden Bilder. Liliana. Ihr Lachen ist mitreißend. Ein Bett. Sie scheint kaum etwas anzuhaben, während sie lachend ein Kissen nach jemandem wirft. Ihre nackten Beine
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