Der verschlossene Gedanke
er sie beinahe selbst glaubt.
„ Sie ist nicht aufgetaucht?“ Ihre Frage klingt mehr nach einer Aussage. Sie senkt den Blick, als müsste sie darüber nachdenken, was sie als nächstes sagt. Das selbstsichere Auftreten beginnt zu bröckeln.
„ Ist alles in Ordnung, Frau Bruckheimer?“
„ Ich habe keine Ahnung, wo Lilli steckt“, antwortet sie schließlich. „Sie hat sich seit Tagen nicht gemeldet und langsam mache ich mir ernsthafte Sorgen.“
„ Könnte ihr etwas zugestoßen sein?“
Sie hebt den Kopf. Ihre Blicke treffen sich. Die kurzzeitig aufgeflackerte Nervosität verschwindet wieder aus ihrer Stimme. „Selbst wenn. Ich wüsste nicht, warum ich mit einem Fremden darüber reden sollte.“
„ Was ist mit diesem Kenny? Könnte der wissen, wo sie steckt?“
„ Woher wissen Sie von ihm?“, fragt sie irritiert.
„ Von Liliana natürlich.“
„ Kenny tut ihr nicht gut. Von Anfang an habe ich ihr gesagt, dass sie die Finger von ihm lassen soll.“
„ Und Sie? Wie gut kennen Sie Liliana?“
„ Liliana und ich sind Freunde. Ich habe sie damals bei einer Schulveranstaltung kennen gelernt, für die sie die Getränke geliefert hat.“
Von Barneys Bierscheune , denkt Oskar. Doch er wagt es nicht, sie zu unterbrechen. Sie ist redseliger, als er erwartet hätte.
„ Sie hat sich von Anfang an dafür interessiert, etwas für die Kinder zu tun und so kam es, dass sie anfing, ihnen regelmäßig vorzulesen.“
„ Sie hat scheinbar ein großes Herz.“ Er ist dankbar, dass ihm gerade noch rechtzeitig einfällt, nicht in der Vergangenheit zu reden.
„ Ja“, antwortet sie leise und beginnt von neuem, ihn zu mustern. „Hören Sie, warum wollen Sie das alles wissen? Nur wegen eines geplatzten Termins?“
„ Ich … Im Grunde.“ Er stammelt.
Noch bevor er sich das nächste Argument überlegen kann, steht sie auf. „Es ist wirklich nett, dass Sie sich bereiterklärt haben, in unserer Schule vorzulesen, aber im Moment habe ich für solche Dinge wirklich keine Zeit.“
Im selben Moment öffnet sich die Tür.
„ Alles in Ordnung?“ Der Mann mit den breiten Schultern.
„ Alles in Ordnung“, wiederholt sie. „Herr Holstein wollte uns gerade verlassen.“
Ihr ist das Verschwinden von Liliana ebenfalls aufgefallen. Ohne Zweifel. Sorgen, die sie bewusst zu verbergen versuchte. Oskar ist sich sicher, dass sie sich der Gefahr bewusst sein muss, in der Liliana gesteckt hat. Warum sonst hat sie so empfindlich auf Kennys Namen reagiert? Und warum hat niemand etwas getan, um sie vor diesem Mann zu schützen, wenn klar war, dass er nicht gut tut?
Kenny. Ein weiteres Indiz, das ihm durch den Kopf geht, als er durch das Wohnviertel fährt. Weiße Fassaden und glänzende Klinker ziehen an ihm vorüber, während er die Straße langsam hinter sich lässt. Er muss ihn finden. Scheinbar ist er der einzige, der ihm wirklich weiterhelfen kann. Vermutlich sogar die Antwort auf alle Fragen. Aber wie kann er ihn ausfindig machen, ohne sich immer weiter in Widersprüchen zu verstricken? Die Notlügen, die er Tanja Bruckheimer aufgetischt hat, haben nur bedingt ihre Wirkung erzielt und es ist fraglich, ob sie ein weiteres Mal funktionieren werden.
An einer Kreuzung, die er in Richtung Stadt verlässt, überkommt ihn ein neuer Gedanke. Begierde mischt sich mit Worten, die ihm unaufhörlich im Kopf herumkreisen. Sie hat die Macht über mich. Jeder Wunsch von ihr bringt mich in eine weitere Abhängigkeit. Sie kann es haben. Alles. Bilder, die sich in seinen Verstand drängen. Ein dunkles Zimmer. Eher ein Abstellraum. Liliana zum Greifen nah zwischen zwei Regalen. Irgendwo ein Stapel Bierkisten. Eine schmutzige Glühlampe, die im trüben Gelb von der Decke hängt. Ihre Wangen sind errötet, das dunkle Haar zu einem Zopf gebunden. Strähnen, die ihr ins Gesicht fallen. Ein weißes Top spannt über ihrer Brust. Sie hat die Macht über mich. Sie kann es haben. Alles. Ihr Lächeln ist unbeschwert. Keine Angst. Nur Vertrauen. Und ein Gegenüber, das nichts als Begehren empfindet. Die Gedanken fangen an, zu Emotionen zu werden. Beinahe glaubt er, sie zu berühren. Hitze. Im Körper. Im Raum. Ihr Gesicht nähert sich. Lippen weich wie Samt. Sie hat die Macht über mich. Sie kann es haben. Alles.
Ein Knall. Stechende Schmerzen im Nacken, die ihn mit aller Gewalt aus den Gedanken reißen. Zwei Rücklichter, die schlagartig in seiner Motorhaube verschwinden. Der Aufprall verschwimmt zu Dunkelheit. Ein Hupen in sich
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