Der Verschollene
während des Dienstes im Bureau des Oberkellners melden muß. Dazu hast Du ja das Tele- phon da. Ich hätte Dich schon gerne vertreten, aber Du weißt ja, daß das nicht so leicht ist. Gerade waren vor beiden Lifs neue Gäste vom Vier-Uhr-dreißig-Expreß- zug. Ich konnte doch nicht zuerst zu Deinem Lif laufen und meine Gäste warten lassen, so bin ich also zuerst mit meinem Lif hinaufgefahren." „Nun?" fragte Karl ge- spannt, da beide Jungen schwiegen. „Nun", sagte der Junge vom Nachbarlif, „da geht gerade der Oberkellner vorüber, sieht die Leute vor Deinem Lif ohne Bedie- nung, bekommt Galle, fragt mich, der ich gleich herge- rannt bin, wo Du steckst, ich habe keine Ahnung davon, denn Du hast mir ja gar nicht gesagt, wohin Du gehst und so telephoniert er gleich in den Schlafsaal, daß sofort ein anderer Junge herkommen soll." „Ich habe Dich ja noch im Gang getroffen", sagte Karls Ersatzmann. Karl nickte. „Natürlich", beteuerte der andere Junge, „habe ich gleich gesagt, daß Du mich um Deine Vertretung gebeten hast, aber hört denn der auf solche Entschuldi- gungen. Du kennst ihn wahrscheinlich noch nicht. Und wir sollen Dir ausrichten, daß Du sofort ins Bureau kommen sollst. Also halte Dich lieber nicht auf und lauf hin. Vielleicht verzeiht er es Dir noch, Du warst ja wirk- lich nur zwei Minuten weg. Berufe Dich nur ruhig auf mich, daß Du mich um Vertretung gebeten hast. Davon daß Du mich vertreten hast rede lieber nicht, laß Dir raten, mir kann ja nichts geschehn, ich hatte Erlaubnis, aber es ist nicht gut von einer solchen Sache zu reden und sie noch in diese Angelegenheit zu mischen, mit der sie nichts zu tun hat." „Es ist das erstemal gewesen, daß ich meinen Posten verlassen habe", sagte Karl. „Das ist immer so, nur glaubt man es nicht", sagte der Junge und lief zu seinem Lif, da sich Leute näherten. Karls Vertre- ter, ein etwa vierzehnjähriger Junge, der offenbar mit Karl Mitleid hatte, sagte: „Es sind schon viele Fälle vor- gekommen, in denen man solche Sachen verziehen hat. Gewöhnlich wird man zu andern Arbeiten versetzt. Entlassen wurde soviel ich weiß wegen einer solchen Sache nur einer. Du mußt Dir nur eine gute Entschuldi- gung ausdenken. Auf keinen Fall sag, daß Dir plötzlich schlecht geworden ist, da lacht er Dich aus. Da ist schon besser, Du sagst, ein Gast hat Dir irgend eine eilige Be- stellung an einen andern Gast aufgegeben und Du weißt nicht mehr, wer der erste Gast war und den zweiten hast Du nicht finden können." „Na", sagte Karl, „es wird nicht so schlimm werden", nach allem was er gehört hatte, glaubte er an keinen guten Ausgang mehr. Und wenn selbst diese Dienstversäumnis verziehen werden sollte, so lag doch drin im Schlafsaal noch Robinson als seine lebendige Schuld und es war bei dem galligen Cha- rakter des Oberkellners nur zu wahrscheinlich, daß man sich mit keiner oberflächlichen Untersuchung begnügen und schließlich doch Robinson noch aufstöbern würde. Es bestand wohl kein ausdrückliches Verbot, nach dem fremde Leute in den Schlafsaal nicht mitgenommen wer- den durfen, aber dies bestand nur deshalb nicht, weil eben unausdenkbare Dinge nicht verboten werden. Als Karl in das Bureau des Oberkellners eintrat, saß dieser gerade bei seinem Morgenkaffee, machte einmal einen Schluck und sah dann wieder in ein Verzeichnis, das ihm offenbar der gleichfalls anwesende oberste Ho- telportier zur Begutachtung überbracht hatte. Es war dies ein großer Mann, den seine üppige reichgeschmück- te Uniform – noch auf den Achseln und die Arme hinun- ter schlängelten sich goldene Ketten und Bänder – noch breitschultriger machte, als er von Natur aus war. Ein glänzender schwarzer Schnurrbart, weit in Spitzen aus- gezogen so wie ihn Ungarn tragen, rührte sich auch bei der schnellsten Kopfwendung nicht. Im übrigen konnte sich der Mann infolge seiner Kleiderlast überhaupt nur schwer bewegen und stellte sich nicht anders, als mit seitwärts eingestemmten Beinen auf, um sein Gewicht richtig zu verteilen.
Karl war frei und eilig eingetreten, wie er es sich hier im Hotel angewöhnt hatte, denn die Langsamkeit und Vorsicht, die bei Privatpersonen Höflichkeit bedeutet, hält man bei Lifjungen für Faulheit. Außerdem mußte man ihm auch nicht gleich beim Eintreten sein Schuldbe- wußtsein ansehn. Der Oberkellner hatte zwar flüchtig auf die sich öffnende Türe hingeblickt, war dann aber sofort zu seinem Kaffee und zu seiner Lektüre zurück-
Weitere Kostenlose Bücher