Der Verschollene
gekehrt, ohne sich weiter um Karl zu kümmern. Der Portier aber fühlte sich vielleicht durch Karls Anwesen- heit gestört, vielleicht hatte er irgend eine geheime Nachricht oder Bitte vorzutragen, jedenfalls sah er alle Augenblicke bös und mit steif geneigtem Kopf nach Karl hin, um sich dann wenn er offenbar seiner Absicht entsprechend mit Karls Blicken zusammengetroffen war, wieder dem Oberkellner zuzuwenden. Karl aber glaubte, es würde sich nicht gut ausnehmen, wenn er jetzt, da er nun schon einmal hier war, das Bureau wie- der verlassen würde, ohne vom Oberkellner den Befehl hiezu erhalten zu haben. Dieser aber studierte weiter das Verzeichnis und aß zwischendurch von einem Stück Ku- chen, von dem er hie und da, ohne im Lesen innezuhal- ten, den Zucker abschüttelte. Einmal fiel ein Blatt des Verzeichnisses zu Boden, der Portier machte nicht ein- mal einen Versuch es aufzuheben, er wußte daß er es nicht zustandebrächte, es war auch nicht nötig, denn Karl war schon zur Stelle und reichte das Blatt dem Oberkellner, der es ihm mit einer Handbewegung abnahm, als sei es von selbst vom Boden aufgeflogen. Die ganze kleine Dienstleistung hatte nichts genützt, denn der Portier hörte auch weiterhin mit seinen bösen Bücken nicht auf.
Trotzdem war Karl gefaßter als früher. Schon daß sei- ne Sache für den Oberkellner so wenig Wichtigkeit zu haben schien, konnte man für ein gutes Zeichen halten. Es war schließlich auch nur begreiflich. Natürlich be- deutet ein Lifjunge gar nichts und darf sich deshalb nichts erlauben, aber eben deshalb weil er nichts bedeu- tet, kann er auch nichts Außerordentliches anstellen. Schließlich war der Oberkellner in seiner Jugend selbst Lifjunge gewesen – was noch der Stolz dieser Genera- tion von Lifjungen war – er war es gewesen, der die Lifjungen zum ersten mal organisiert hatte und gewiß hat er auch einmal ohne Erlaubnis seinen Posten verlas- sen, wenn ihn auch jetzt allerdings niemand zwingen konnte, sich daran zu erinnern und wenn man auch nicht außer Acht lassen durfe, daß er gerade als gewesener Lifjunge darin seine Pflicht sah, diesen Stand durch zeitweilig unnachsichtliche Strenge in Ordnung zu hal- ten. Nun setzte aber Karl außerdem seine Hoffnung auf das Vorrücken der Zeit. Nach der Bureauuhr war schon viertel sechs vorüber, jeden Augenblick konnte Renell zurückkehren, vielleicht war er sogar schon da, denn es mußte ihm doch aufgefallen sein, daß Robinson nicht zurückgekommen war, übrigens konnten sich Dela- marche und Renell gar nicht weit vom Hotel occidental aufgehalten haben, wie Karl jetzt einfiel, denn sonst hät- te doch Robinson in seinem elenden Zustand den Weg hierher nicht gefunden. Wenn nun Renell Robinson in seinem Bett antraf, was doch geschehen mußte, dann war alles gut. Denn praktisch wie Renell war, besonders wenn es sich um seine Interessen handelte, würde er schon Robinson irgendwie gleich aus dem Hotel entfer- nen, was ja umso leichter geschehen konnte, da Robin- son sich inzwischen ein wenig gestärkt hatte und über- dies wahrscheinlich Delamarehe vor dem Hotel wartete, um ihn in Empfang zu nehmen. Wenn aber Robinson einmal entfernt war, dann konnte Karl dem Oberkellner viel ruhiger entgegentreten und für diesmal vielleicht noch mit einer wenn auch schweren Rüge davonkom- men. Dann würde er sich mit Terese beraten, ob er der Oberköchin die Wahrheit sagen dürfe – er sah für seinen Teil kein Hindernis – und wenn das möglich war, würde die Sache ohne besonderen Schaden aus der Welt ge- schaf sein.
Gerade hatte sich Karl durch solche Überlegungen ein wenig beruhigt und machte sich daran, das in dieser Nacht eingenommene Trinkgeld unauffällig zu überzäh- len, denn es schien ihm dem Gefühl nach besonders reichlich gewesen zu sein, als der Oberkellner das Ver- zeichnis mit den Worten „Warten Sie noch bitte einen Augenblick Feodor" auf den Tisch legte, elastisch auf- sprang und Karl so laut anschrie, daß dieser erschrocken vorerst nur in das große schwarze Mundloch starrte.
„Du hast Deinen Posten ohne Erlaubnis verlassen. Weißt Du was das bedeutet? Das bedeutet Entlassung. Ich will keine Entschuldigungen hören, Deine erlogenen Ausreden kannst Du für Dich behalten, mir genügt voll- ständig die Tatsache daß Du nicht da warst. Wenn ich das einmal dulde und verzeihe, werden nächstens alle vierzig Lifjungen während des Dienstes davonlaufen und ich kann meine fünfausend Gäste allein
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