Der Verschollene
die Trep- pen hinaufragen."
Karl schwieg. Der Portier war nähergekommen und zog das Röckchen Karls, das einige Falten warf, ein we- nig tiefer, zweifellos um den Oberkellner auf diese klei- ne Unordentlichkeit im Anzug Karls besonders auf- merksam zu machen.
„Ist Dir vielleicht plötzlich schlecht geworden?" frag- te der Oberkellner listig. Karl sah ihn prüfend an und antwortete: „Nein." „Also nicht einmal schlecht ist Dir geworden?" schrie der Oberkellner desto stärker. „Also dann mußt Du ja irgendeine großartige Lüge erfunden haben. Heraus damit. Was für eine Entschuldigung hast Du?" „Ich habe nicht gewußt, daß man telephonisch um Erlaubnis bitten muß", sagte Karl. „Das ist allerdings köstlich", sagte der Oberkellner, faßte Karl beim Rock- kragen und brachte ihn fast in Schwebe vor eine Dienst- ordnung der Lifs, die auf der Wand aufgenagelt war. Auch der Portier gieng hinter ihnen zur Wand hin. „Da! lies!" sagte der Oberkellner und zeigte auf einen Para- graphen. Karl glaubte er solle es für sich lesen. „Laut!" kommandierte aber der Oberkellner. Statt laut zu lesen, sagte Karl in der Hoffnung damit den Oberkellner bes- ser zu beruhigen: „Ich kenne den Paragraphen, ich habe ja die Dienstordnung auch bekommen und genau gele- sen. Aber gerade eine solche Bestimmung, die man nie- mals braucht, vergißt man. Ich diene schon zwei Monate und habe niemals meinen Posten verlassen." „Dafür wirst Du ihn jetzt verlassen", sagte der Oberkellner, gieng zum Tisch hin, nahm das Verzeichnis wieder zur Hand, als wolle er darin weiterlesen, schlug damit aber auf den Tisch als sei es ein nutzloser Fetzen und gieng, starke Röte auf Stirn und Wangen, kreuz und quer im Zimmer herum. „Wegen eines solchen Bengels hat man das nötig. Solche Aufregungen beim Nachtdienst!" stieß er einigemal hervor. „Wissen Sie wer gerade hinauffah- ren wollte, als dieser Kerl hier vom Lif weggelaufen ist?" wandte er sich zum Portier. Und er nannte einen Namen, bei dem es den Portier, der gewiß alle Gäste kannte und bewerten konnte, so schauderte, daß er schnell auf Karl hinsah, als sei nur dessen Existenz eine Bestätigung dessen, daß der Träger jenes Namens eine Zeitlang bei einem Lif dessen Junge weggelaufen war, nutzlos hatte warten müssen. „Das ist schrecklich!" sag- te der Portier und schüttelte langsam in grenzenloser Beunruhigung den Kopf gegen Karl hin, welcher ihn traurig ansah und dachte, daß er nun auch für die Be- griffstützigkeit dieses Mannes werde büßen müssen. Ich kenne Dich übrigens auch schon", sagte der Portier und streckte seinen dicken großen steif gespannten Zei- gefinger aus. „Du bist der einzige Junge, welcher mich grundsätzlich nicht grüßt. Was bildest Du Dir eigentlich ein! Jeder der an der Portierloge vorübergeht muß mich grüßen. Mit den übrigen Portiers kannst Du es halten, wie Du willst, ich aber verlange gegrüßt zu werden. Ich tue zwar manchmal so, als ob ich nicht aufpaßte, aber Du kannst ganz ruhig sein, ich weiß sehr genau, wer mich grüßt oder nicht, Du Lümmel." Und er wandte sich von Karl ab und schritt hochaufgerichtet auf den Oberkellner zu, der aber statt sich zu des Portiers Sache zu äußern, sein Frühstück beendete und eine Morgen- zeitung überflog, die ein Diener eben ins Zimmer her- eingereicht hatte.
„Herr Oberportier", sagte Karl, der während der Unachtsamkeit des Oberkellners wenigstens die Sache mit dem Portier ins Reine bringen wollte, denn er be- griff, daß ihm vielleicht der Vorwurf des Portiers nicht schaden konnte, wohl aber dessen Feindschaf, „ich grü- ße Sie ganz gewiß. Ich bin doch noch nicht lange in Amerika und stamme aus Europa, wo man bekanntlich viel mehr grüßt, als nötig ist. Das habe ich mir natürlich noch nicht ganz abgewöhnen können und noch vor zwei Monaten hat man mir in New York, wo ich zufällig in höheren Kreisen verkehrte, bei jeder Gelegenheit zuge- redet, mit meiner übertriebenen Höflichkeit aufzuhören. Und da sollte ich gerade Sie nicht gegrüßt haben. Ich habe Sie jeden Tag einigemal gegrüßt. Aber natürlich nicht jedesmal wenn ich Sie gesehen habe, da ich doch täglich hundertmal an Ihnen vorüberkomme." „Du hast mich jedesmal zu grüßen, jedesmal ohne Ausnahme, Du hast die ganze Zeit, während Du mit mir sprichst die Kappe in der Hand zu halten, Du hast mich immer mit Oberportier anzureden und nicht mit Sie. Und alles das jedesmal und jedesmal." „Jedesmal?"
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