Der Verschollene
Mund in die Tiefe. Hilflos strich er in den Pausen die ihm seine Übel- keit ließ blindlings an Karl hin. „Sie sind wirklich ein guter Junge", sagte er dann oder „es hört schon auf", was aber noch lange nicht richtig war, oder „die Hunde, was haben sie mir dort für ein Zeug eingegossen!" Karl hielt es vor Unruhe und Ekel bei ihm nicht aus und begann auf und ab zu gehn. Hier im Winkel neben dem Aufzug war ja Robinson ein wenig versteckt, aber wie wenn ihn doch jemand bemerkte, einer dieser nervösen reichen Gäste, die nur darauf warten, dem herbeilaufen- den Hotelbeamten eine Beschwerde mitzuteilen, für welche dieser dann wütend am ganzen Hause Rache nimmt oder wenn einer dieser immerfort wechselnden Hoteldetektivs vorüberkäme, die niemand kennt außer die Direktion und die man in jedem Menschen vermutet, der prüfende Blicke, vielleicht auch bloß aus Kurzsich- tigkeit, macht. Und unten brauchte nur jemand bei dem die ganze Nacht nicht aussetzenden Restaurationsbe- trieb in die Vorratskammern zu gehn, staunend die Scheußlichkeit im Lichtschacht zu bemerken und Karl telephonisch anzufragen, was denn um Himmelswillen da oben los sei. Konnte Karl dann Robinson verleug- nen? Und wenn er es täte, würde sich nicht Robinson in seiner Dummheit und Verzweiflung statt aller Entschul- digung gerade nur auf Karl berufen? Und mußte dann nicht Karl sofort entlassen werden, da dann das Uner- hörte geschehen war, daß ein Lifjunge, der niedrigste und entbehrlichste Angestellte in der ungeheueren Stu- fenleiter der Dienerschaf dieses Hotels, durch seinen Freund das Hotel hatte beschmutzen und die Gäste er- schrecken oder gar vertreiben lassen? Konnte man einen Lifjungen weiter dulden, der solche Freunde hatte, von denen er sich überdies während seiner Dienststunden besuchen ließ? Sah es nicht ganz so aus, als ob ein sol- cher Lifjunge selbst ein Säufer oder gar etwas Ärgeres sei, denn welche Vermutung war einleuchtender, als daß er seine Freunde aus den Vorräten des Hotels so lange überfütterte, bis sie an einer beliebigen Stelle dieses glei- chen peinlich rein gehaltenen Hotels solche Dinge aus- führten, wie jetzt Robinson? Und warum sollte sich ein solcher Junge auf die Diebstähle von Lebensmitteln be- schränken, da doch die Möglichkeiten zu stehlen, bei der bekannten Nachlässigkeit der Gäste, den überall offen- stehenden Schränken, den auf den Tischen herumliegen- den Kostbarkeiten, den aufgerissenen Kassetten, den ge- dankenlos hingeworfenen Schlüsseln wirklich unzählige waren?
Gerade sah Karl in der Ferne Gäste aus einem Keller- lokal heraufsteigen, in dem eben eine Varietevorstellung beendet worden war. Karl stellte sich zu seinem Aufzug und wagte sich gar nicht nach Robinson umzudrehn aus Furcht vor dem, was er zu sehn bekommen könnte. Es beruhigte ihn wenig, daß er keinen Laut, nicht einmal einen Seufzer von dort hörte. Er bediente zwar seine Gäste und fuhr mit ihnen auf und ab, aber seine Zer- streutheit konnte er doch nicht ganz verbergen und bei jeder Abwärtsfahrt war er darauf gefaßt, unten eine peinliche Überraschung vorzufinden.
Endlich hatte er wieder Zeit nach Robinson zu sehn, der in seinem Winkel ganz klein kauerte und das Gesicht gegen die Knie drückte. Seinen runden harten Hut hatte er weit aus der Stirne geschoben. „Also jetzt gehn Sie schon", sagte Karl leise und bestimmt, „hier ist das Geld. Wenn Sie sich beeilen, kann ich Ihnen noch den kürzesten Weg zeigen." „Ich werde nicht weggehn kön- nen", sagte Robinson und wischte sich mit einem win- zigen Taschentuch die Stirn, „ich werde hier sterben. Sie können sich nicht vorstellen, wie schlecht mir ist. Delamarche nimmt mich überall in die feinen Lokale mit, aber ich vertrage dieses zimperliche Zeug nicht, ich sage es Delamarche täglich." „Hier können Sie nun ein- mal nicht bleiben", sagte Karl, „bedenken Sie doch wo Sie sind. Wenn man Sie hier findet, werden Sie bestraf und ich verliere meinen Posten. Wollen Sie das?" „Ich kann nicht weggehn", sagte Robinson, „lieber spring ich da hinunter", und er zeigte zwischen den Geländer- stangen in den Lichtschacht. „Wenn ich hier so sitze, so kann ich es noch ertragen, aber aufstehn kann ich nicht, ich habe es ja schon versucht wie Sie wegwaren." „Dann hole ich also einen Wagen, und Sie fahren ins Krankenhaus", sagte Karl und schüttelte ein wenig Ro- binsons Beine, der jeden Augenblick in völlige Teil- nahmslosigkeit zu verfallen drohte. Aber
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