Der Verschollene
Oberkellner aus welchen Gründen immer versäumt hat, im Namen der Hoteldirektion wenigstens ein wenig nachzuholen. So tritt hier immer jeder für den andern ein. Ohne das wäre ein so großer Betrieb undenkbar. Du willst viel- leicht sagen, daß ich nicht Dein unmittelbarer Vorge- setzter bin, nun desto schöner ist es von mir, daß ich mich dieser sonst verlassenen Sache annehme. Im übri- gen bin ich in gewissem Sinne als Oberportier über alle gesetzt, denn mir unterstehn doch alle Tore des Hotels, also dieses Haupttor, die drei Mittel- und die zehn Ne- bentore, von den unzähligen Türchen und türlosen Aus- gängen gar nicht zu reden. Natürlich haben mir alle in Betracht kommenden Bedienungsmannschafen unbe- dingt zu gehorchen. Gegenüber diesen großen Ehren habe ich natürlich anderseits vor der Hoteldirektion die Verpflichtung niemanden herauszulassen, der nur im ge- ringsten verdächtig ist. Gerade Du aber kommst mir, weil es mir so beliebt sogar stark verdächtig vor." Und vor Freude darüber hob er die Hände und ließ sie wieder stark zurückschlagen, daß es klatschte und wehtat. „Es ist möglich", fügte er hinzu und unterhielt sich dabei königlich, „daß Du bei einem andern Ausgang unbe- merkt herausgekommen wärest, denn Du standst mir natürlich nicht dafür, besondere Anweisungen Deinet- wegen ergehen zu lassen. Aber da Du nun einmal hier bist, will ich Dich genießen. Im übrigen habe ich nicht daran gezweifelt, daß Du das Rendezvous, das wir uns beim Haupttor gegeben hatten auch einhalten wirst, denn das ist eine Regel, daß der Freche und Unfolgsame gerade dort und dann mit seinen Lastern aufört, wo es ihm schadet. Du wirst das an Dir selbst gewiß noch of beobachten können."
„Glauben Sie nicht", sagte Karl und atmete den eigen- tümlich dumpfen Geruch ein, der vom Oberportier aus- gieng und den er erst hier, wo er so lange in seiner nächsten Nähe stand, bemerkte, „glauben Sie nicht", sagte er, „daß ich vollständig in Ihrer Gewalt bin, ich kann ja schreien." „Und ich kann Dir den Mund stop- fen", sagte der Oberportier ebenso ruhig und schnell, wie er es wohl nötigenfalls auszuführen gedachte. „Und meinst Du denn wirklich, wenn man Deinetwegen her- einkommen sollte, es würde sich jemand finden der Dir Recht geben würde, mir dem Oberportier gegenüber. Du siehst also wohl den Unsinn Deiner Hoffnungen ein. Weißt Du, wie Du noch in der Uniform warst, da hast Du ja tatsächlich noch etwas beachtenswert ausgesehn, aber in diesem Anzug, der tatsächlich nur in Europa möglich ist." Und er zerrte an den verschiedensten Stel- len des Anzugs, der jetzt allerdings, trotzdem er vor fünf Monaten noch fast neu gewesen war, abgenützt, faltig, vor allem aber fleckig war, was hauptsächlich auf die Rücksichtslosigkeit der Lifjungen zurückzuführen war, die jeden Tag, um den Saalboden dem allgemeinen Be- fehl gemäß, glatt und staubfrei zu erhalten, aus Faulheit keine eigentliche Reinigung vornahmen, sondern mit ir- gendeinem Öl den Boden sprengten und damit gleich- zeitig alle Kleider auf den Kleiderständern schändlich bespritzten. Nun konnte man seine Kleider aufeben, wo man wollte, immer fand sich einer, der gerade seine Kleider nicht bei der Hand hatte, dagegen die versteck- ten fremden Kleider mit Leichtigkeit fand und sich aus- borgte. Und womöglich war dieser eine gerade derjeni- ge, der an diesem Tage die Saalreinigung vorzunehmen hatte und der dann die Kleider nicht nur mit dem Öl bespritzte, sondern vollständig von oben bis unten be- goß. Nur Renell hatte seine kostbaren Kleider an irgend- einem geheimen Orte versteckt, von wo sie kaum jemals einer hervorgezogen hatte, zumal ja auch niemand viel- leicht aus Bosheit oder Geiz fremde Kleider sich aus- borgte, sondern aus bloßer Eile und Nachlässigkeit dort nahm, wo er sie fand. Aber selbst auf Renells Kleid war mitten auf dem Rücken ein kreisrunder rötlicher Ölfleck und in der Stadt hätte ein Kenner an diesem Fleck selbst in diesem eleganten jungen Mann den Lifjungen fest- stellen können.
Und Karl sagte sich bei diesen Erinnerungen daß er auch als Lifjunge genug gelitten hatte und daß doch alles vergebens gewesen war, denn nun war dieser Lif- jungendienst nicht wie er gehof hatte, eine Vorstufe zu besserer Anstellung gewesen, vielmehr war er jetzt noch tiefer herabgedrückt worden und sogar sehr nahe an das Gefängnis geraten. Überdies wurde er jetzt noch vom Oberportier festgehalten der wohl
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