Der Verschollene
reines, von roh ausgearbeiteten Muskeln gebildetes Gesicht sah stolz und respekteinflößend aus. Der grelle Schein seiner jetzt immer etwas zusammengezogenen Augen über- raschte. Sein violetter Schlafrock war zwar alt, fleckig und für ihn zu groß, aber aus diesem häßlichen Klei- dungsstück bauschte sich oben eine mächtige dunkle Kravatte aus schwerer Seide. „Nun?" fragte er alle ins- gesammt. Der Polizeimann trat ein wenig näher und lehnte sich an den Motorkasten des Automobils. Karl gab eine kleine Erklärung. „Robinson ist ein wenig ma- rod, aber wenn er sich Mühe gibt, wird er schon die Treppen hinaufgehn können; der Chauffeur hier will noch eine Nachzahlung zum Fahrtgeld, das ich schon bezahlt habe. Und jetzt gehe ich. Guten Tag." „Du gehst nicht", sagte Delamarche. „Ich habe es ihm auch schon gesagt", meldete sich Robinson aus dem Wagen. „Ich gehe doch", sagte Karl und machte ein paar Schrit- te. Aber Delamarche war schon hinter ihm und schob ihn mit Gewalt zurück. „Ich sage, Du bleibst", rief er. „Aber laßt mich doch", sagte Karl und machte sich be- reit, wenn es nötig sein sollte, mit den Fäusten sich die Freiheit zu verschaffen, so wenig Aussicht auf Erfolg gegenüber einem Mann wie Delamarche auch war. Aber da stand doch der Polizeimann, da war der Chauffeur, hie und da giengen Arbeitergruppen durch die sonst freilich ruhige Straße, würde man es denn dulden daß ihm von Delamarche ein Unrecht geschehe? In einem Zimmer hätte er mit ihm nicht allein sein wollen, aber hier? Delamarche zahlte jetzt ruhig dem Chauffeur, der unter vielen Verbeugungen den unverdient großen Be- trag einsteckte und aus Dankbarkeit zu Robinson gieng und mit diesem offenbar darüber sprach, wie er am be- sten herausbefördert werden könnte. Karl sah sich unbe- obachtet, vielleicht duldete Delamarche ein stillschwei- gendes Fortgehn leichter, wenn Streit vermieden werden konnte, war es natürlich am besten und so gieng Karl einfach in die Fahrbahn hinein um möglichst rasch weg- zukommen. Die Kinder strömten zu Delamarche um ihn auf Karls Flucht aufmerksam zu machen, aber er mußte selbst gar nicht eingreifen, denn der Polizeimann sagte mit vorgestrecktem Stabe „halt!"
„Wie heißt Du", fragte er, schob den Stab unter den Arm und zog langsam ein Buch hervor. Karl sah ihn jetzt zum ersten Mal genauer an, es war ein kräfiger Mann, hatte aber schon fast ganz weißes Haar. „Karl Roßmann", sagte er. „Roßmann", wiederholte der Poli- zeimann, zweifellos nur, weil er ein ruhiger und gründli- cher Mensch war, aber Karl, der hier eigentlich zum ersten Mal mit amerikanischen Behörden zu tun bekam, sah schon in dieser Wiederholung das Aussprechen eines gewissen Verdachtes. Und tatsächlich konnte seine Sa- che nicht gut stehn, denn selbst Robinson, der doch so sehr mit seinen eigenen Sorgen beschäfigt war, bat aus dem Wagen heraus mit stummen lebhafen Handbewe- gungen den Delamarche, er möge Karl doch helfen. Aber Delamarche wehrte ihn mit hastigem Kopfschüt- teln ab und sah untätig zu, die Hände in seinen übergro- ßen Taschen. Der Bursche auf dem Türstein erklärte ei- ner Frau, die jetzt erst aus dem Tore trat, den ganzen Sachverhalt von allem Anfang an. Die Kinder standen in einem Halbkreis hinter Karl und sahen still zum Polizei- mann hinauf.
„Zeig Deine Ausweispapiere", sagte der Polizeimann. Das war wohl nur eine formelle Frage, denn wenn man keinen Rock hat, wird man auch nicht viel Ausweispa- piere bei sich haben. Karl schwieg deshalb auch, um lieber auf die nächste Frage ausführlich zu antworten und so den Mangel der Ausweispapiere möglichst zu vertuschen. Aber die nächste Frage war: „Du hast also keine Ausweispapiere?" und Karl mußte nun antworten „Bei mir nicht." „Das ist aber schlimm", sagte der Poli- zeimann, sah nachdenklich im Kreise umher und klopfe mk zwei Fingern auf den Deckel seines Buches. „Hast Du irgend einen Verdienst?" fragte der Polizeimann schließlich. „Ich war Lifjunge", sagte Karl. „Du warst Lifjunge, bist es also nicht mehr und wovon lebst Du denn jetzt?" „Jetzt werde ich mir eine neue Arbeit su- chen." „Ja bist Du denn jetzt entlassen worden?" „Ja vor einer Stunde." „Plötzlich?" „Ja", sagte Karl und hob wie zur Entschuldigung die Hand. Die ganze Geschichte konnte er hier nicht erzählen und wenn es auch möglich gewesen wäre, so schien es doch ganz aussichtslos ein drohendes Unrecht durch Erzählung eines
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