Der Verschollene
gegen Karl hin ausstreckte. Karl hatte wenig Hoff- nung und verlor sie fast ganz, als der Polizeimann nun, da sie sich Quergassen näherten, die gewiß auch Polizei- patrouillen enthielten, geradezu betäubende Pfiffe aus- stieß. Karls Vorteil war lediglich seine leichte Kleidung, er flog oder besser stürzte die sich immer mehr senkende Straße herab, nur machte er zerstreut infolge seiner Ver- schlafenheit of zu hohe, zeitraubende und nutzlose Sprünge. Außerdem aber hatte der Polizeimann sein Ziel ohne nachdenken zu müssen, immer vor Augen, für Karl dagegen war der Lauf doch eigentlich Nebensache, er mußte nachdenken, unter verschiedenen Möglichkei- ten auswählen, immer neu sich entschließen. Sein etwas verzweifelter Plan war vorläufig die Quergassen zu ver- meiden, da man nicht wissen konnte was in ihnen steck- te, vielleicht würde er da geradeweg in eine Wachstube hineinlaufen; er wollte sich solange es nur gieng an diese weithin übersichtliche Straße halten, die erst tief unten in eine Brücke auslief, die kaum begonnen in Wasser- und Sonnendunst verschwand. Gerade wollte er sich nach diesem Entschluß zu schnellerem Lauf zusammen- nehmen, um die erste Quergasse besonders eilig zu pas- sieren, da sah er nicht allzuweit vor sich einen Polizei- mann lauernd an die dunkle Mauer eines im Schatten liegenden Hauses gedrückt, bereit im richtigen Augen- blick auf Karl loszuspringen. Jetzt blieb keine Hilfe, als die Quergasse und als er gar aus dieser Gasse ganz harm- los beim Namen gerufen wurde – es schien ihm zwar zuerst eine Täuschung zu sein, denn ein Sausen hatte er schon die ganze Zeit lang in den Ohren, zögerte er nicht mehr langer und bog, um die Polizeileute möglichst zu überraschen, auf einem Fuß sich schwenkend recht- winklig in diese Gasse ein.
Kaum war er zwei Sprünge weit gekommen – daran, daß man seinen Namen gerufen hatte hatte er schon wieder vergessen, nun pfiff auch der zweite Polizei- mann, man merkte seine unverbrauchte Kraf, ferne Pas- santen in dieser Quergasse schienen eine raschere Gang- art anzunehmen – da griff aus einer kleinen Haustüre eine Hand nach Karl und zog ihn mit den Worten „Still sein" in einen dunklen Flur. Es war Delamarche, ganz außer Athem, mit erhitzten Wangen, seine Haare kleb- ten ihm rings um den Kopf. Den Schlafrock trug er unter dem Arm und war nur mit Hemd und Unterhose bekleidet. Die Türe, welche nicht das eigentliche Haus- tor war, sondern nur einen unscheinbaren Nebenein- gang bildete, hatte er gleich geschlossen und versperrt. „Einen Augenblick", sagte er dann, lehnte sich mit hochgehaltenem Kopf an die Wand und atmete schwer. Karl lag fast in seinem Arm und drückte halb besin- nungslos das Gesicht an seine Brust. „Da laufen die Herren", sagte Delamarche und streckte den Finger auf- horchend gegen die Tür. Wirklich liefen jetzt die zwei Polizeileute vorbei, ihr Laufen klang in der leeren Gasse, wie wenn Stahl gegen Stein geschlagen wird. „Du bist aber ordentlich hergenommen", sagte Delamarche zu Karl, der noch immer an seinem Athem würgte und kein Wort herausbringen konnte. Delamarche setzte ihn vor- sichtig auf den Boden, kniete neben ihm nieder, strich ihm mehrmals über die Stirn und beobachtete ihn. „Jetzt geht es schon", sagte endlich Karl und stand mühsam auf. „Dann also los", sagte Delamarche, der seinen Schlafrock wieder angezogen hatte und schob Karl, der noch vor Schwäche den Kopf gesenkt hielt, vor sich her. Von Zeit zu Zeit schüttelte er Karl, um ihn frischer zu machen. „Du willst müde sein?" sagte er. „Du konntest doch im Freien laufen wie ein Pferd, ich aber mußte hier durch die verf luchten Gänge und Höfe schleichen. Glücklicher Weise bin ich aber auch ein Läufer." Vor Stolz gab er Karl einen weit ausgeholten Schlag auf den Rücken. „Von Zeit zu Zeit ist ein solches Wettrennen mit der Polizei eine gute Übung." „Ich war schon müde, wie ich zu laufen anfieng", sagte Karl. „Für schlechtes Laufen gibt es keine Entschuldigung", sagte Dela- marche. „Wenn ich nicht wäre, hätten sie Dich schon längst gefaßt." „Ich glaube auch", sagte Karl. „Ich bin Ihnen sehr verpflichtet." „Kein Zweifel", sagte Dela- marche.
Sie giengen durch einen langen schmalen Flurgang, der mit dunklen glatten Steinen gepflastert war. Hie und da öffnete sich rechts oder links ein Treppenaufgang oder man erhielt einen Durchblick in einen andern größern Flur. Erwachsene waren kaum zu sehn,
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