Der versoffene Papagei
Dann ging ich um die Tanzfläche herum, als suchte ich die Toilette, und legte im Vorbeigehen den Zettel auf den Tisch.
Ich hatte ihr geschrieben :
Gehen Sie auf die Toilette, und wenn draußen niemand ist, geben Sie mir das Negativ. Behalten Sie aber den Umschlag. Wenn Leute draußen sind, frisieren Sie sich vor dem Spiegel und legen das Negativ unter den Aschenbecher. Gehen Sie auf alles ein, was man Ihnen vorschlägt. Keine Angst!
Der Vorraum war ruhig, nur eine ältere Dame stand vor dem Spiegel und zog sich die Lippen nach. May kam heraus, schaute mich an, und ich schüttelte leicht den Kopf. Sie ging den Gang hinunter, blieb vor dem Spiegel stehen und wühlte in ihrer Handtasche herum. Die ältere Dame rückte ein wenig zur Seite und sagte etwas zu May. May begann, sich zu frisieren, und tat dies so lange, bis die Dame im Lokal verschwunden war. Dann schob May rasch das Negativ unter die Aschenschale und ging weg.
Ich holte das Negativ, steckte es ein und ging zur Toilette. Natürlich war es ein Duplikatnegativ . Der Erpresser besaß also noch das Original. Bei der relativ geringen Summe von hundert Dollar hatte ich das auch nicht anders erwartet.
Ich kehrte ins Lokal zurück, trank meinen Kaffee aus und bestellte einen zweiten.
Um einundzwanzig Uhr vierunddreißig kam ein junger Mann herein. Er trug einen dunklen Anzug mit einer weißen Nelke im Knopfloch. Er sah blendend aus.
Er blickte sich im Lokal um, als suche er einen geeigneten Platz. Plötzlich entdeckte er May. Mit langen, federnden Schritten ging er auf sie zu, und ich sah, wie er ihr die Hand hinstreckte. Er sprach mit ihr, lachte, und May gab ihm ebenfalls die Hand. Er setzte sich zu ihr, und eine angeregte Unterhaltung kam in Gang.
Das paßte mir gar nicht. Dieser junge Bursche, offenbar ein Bekannter von May, konnte mir das ganze Programm verpatzen. Ich hoffte sehr, sie würde irgendeinen Weg finden, um ihn wegzuschicken; niemals würde sich der Erpresser bemerkbar machen, wenn May nicht allein war.
May schien aber nicht auf diesen Gedanken zu kommen. Die beiden steckten die Köpfe zusammen, der junge Mann lachte wieder so laut, daß ich es bis hierher hörte, und dann stand er auf.
Er legte eine Hand auf Mays Schulter, tätschelte sie und ging hinaus.
Ich war sofort bei May.
»Das war er«, sagte sie aufgeregt.
»Was? Das war er? Kein Bekannter von Ihnen?«
»Nicht die Spur«, sagte sie. »Ich habe ihn noch nie gesehen. Er tat nur so, als ob wir uns kennen würden. Er behauptete, wir hätten zusammen in Las Vegas gespielt, und er hätte mir dort hundert Dollar geliehen. Er sagte, es sei nicht eilig, aber er hätte gern einen Schuldschein. Ich habe den Schuldschein unterschrieben. War das richtig?«
»Goldrichtig — zahlen Sie bitte meine Rechnung!«
Ich lief dem Burschen nach und kam gerade dazu, wie er draußen einem Taxi winkte.
Ich tippte ihm auf die Schulter.
»Sparen Sie sich das Geld. Ich fahre Sie umsonst heim.«
Er war etwa fünfundzwanzig, hatte ein intelligentes schmales Gesicht und war mir eigentlich nicht unsympathisch.
Er lächelte mich mit schneeweißen Zähnen an.
»Das ist sehr nett von Ihnen. Womit habe ich das verdient?«
»May Wilsons Freunde«, sagte ich, »sind auch meine Freunde.«
Er schien sich ehrlich zu freuen.
»Ach nein!« sagte er. »Sie sind auch mit May befreundet? Stellen Sie sich vor, ich habe sie über ein Jahr nicht mehr gesehen. Wir spielten damals zusammen in Las Vegas und verloren uns dann aus den Augen. Ich wußte nicht einmal, daß sie hier lebt. Ein netter Zufall, nicht wahr?«
»Ja«, nickte ich. »Zufälle haben ihre Reize. Wohin soll ich Sie fahren?«
»Aber nein«, wehrte er ab. »Das war doch wohl nicht Ihr Ernst.«
»Doch«, sagte ich, »es ist mir verdammt ernst. Kann ich mal den Schuldschein sehen?«
Er machte ein erstauntes Gesicht.
»J—ja«, sagte er zögernd, »den könnte ich Ihnen schon zeigen. Aber — entschuldigen Sie — ich weiß nicht genau, ob Sie das was angeht. Es ging May seinerzeit recht dreckig, und ich hatte zufällig ein paar Moneten in der Tasche. Ich pumpte ihr einen Hunderter, und dann mußte ich unerwartet zu Außenaufnahmen nach Mexiko. Als ich zurückkam, war May verschwunden. Ich bin dann später auch umgezogen und hatte eigentlich gar nicht mehr damit gerechnet, sie oder meinen Hunderter jemals wiederzusehen. Natürlich will ich sie jetzt auch nicht drängen, aber brauchen könnte ich das Geld jetzt ganz gut. Nur pro forma habe ich mir
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