Der versunkene Wald
Saint-Michel aufgenommen würde, mußte erst jemandem einfallen, sie dort zu suchen. Sie hatten in Courtils nichts hinterlassen, was darauf wies, wohin sie sich gewandt hatten. Die Suchaktion konnte leicht eine falsche Fährte verfolgen, und dann würden Tage über Tage vergehen, bis man auf die Idee kam, die unterirdischen Räume der Abtei zu durchforschen. Und selbst wenn das geschah, würde man gerade hier zu suchen beginnen?
„Sag mal, Pierre“, fragte Raymond, „da ist etwas, was ich mir nicht erklären kann. Du sagtest uns doch, daß du mit deinem Vater durch denselben Lattenverschlag gegangen bist, nicht wahr?“
„Ja, und ich bin sicher, daß ich mich nicht geirrt habe. Hätte ich mir damals nicht gemerkt, daß man den Pflock wegschieben muß, um das Brett beiseiteziehen zu können, wären wir heute nicht durchgekommen.“
„Gut. Und trotzdem hast du später gesagt, du hättest dich verlaufen und wüßtest nicht mehr, wo wir wären?“
„Stimmt. Ich habe die Krypta nicht gefunden, zu der wir damals geführt worden sind.“
„Noch eine Frage, Pierre, denke bitte scharf nach: Bist du absolut sicher, daß ihr hinter dem Lattenverschlag nicht die Treppe hinauf-, sondern hinuntergegangen seid, wie wir heute?“
„Wir sind erst hinaufgegangen. Aber ich sagte euch ja schon, die Wendeltreppe kommt oben auf einer Terrasse heraus, wo man wieder auf den Touristen-Rundweg gerät. Wir sind damals wieder umgekehrt, sind noch einmal bei dem Bretterverschlag vorbeigekommen und dann die Wendeltreppe immer weiter hinuntergestiegen. Ich könnte meinen Kopf verwetten, daß wir auf diesem Weg zu der Krypta gekommen sind.“
„Behalte lieber deinen Kopf und sieh ein, daß etwas an der Geschichte nicht stimmen kann. Dein Vater und du — ihr könnt nicht über ein und dieselbe Treppe in die Krypta gekommen sein und wir heute in diesen Gang, ohne daß wir wenigstens im Vorbeigehen etwas von einer Krypta gesehen hätten. Es muß da an irgendeiner Stelle eine Abzweigung geben. Dabei sind wir doch aber die ganze Zeit geradeaus gegangen, und nirgends hatten wir die Wahl zwischen zwei Wegen.“
„Doch, wir hatten die Wahl“, antwortete Pierre mit tonloser Stimme. „Ich fange erst jetzt an zu begreifen, wie alles gekommen ist. Könnt ihr euch erinnern, daß nach etwa fünfzig Stufen die Wendeltreppe zu Ende war und eine andere Treppe begann, die gerade und sehr viel steiler abwärts ging?“
„Ja“, sagte Raymond. „Es war da ein kleiner Treppenabsatz.“
„Jacques“, fuhr Pierre fort, „entsinnst du dich, daß ich stehengeblieben bin und du mich gefragt hast, warum es nicht weiterginge?“
„Ja, ich hatte Angst. Es kam mir so vor, als ob du zögertest und den Weg nicht mehr wüßtest.“
„Es war auch so. Ich bin stehengeblieben, weil ich so etwas wie einen dunklen Gang gesehen hatte, der von diesem Treppenabsatz weiterzuführen schien. Es ist mir jetzt klar, daß ich mit meinem Vater dort weitergegangen bin; nach ein paar Metern dieses Ganges steht man in der Krypta. Aber heute erschien er mir so winklig und eng, daß ich ihn nicht wiedererkannt habe, noch dazu, weil die Treppe gerade vor uns lag. Als ich das erste Mal hier war, gab es diese zweite Treppe nicht.“
„Was redest du da? Willst du uns einen Bären aufbinden oder bist du am Überschnappen?“
„Keins von beiden. Denkt einmal alle daran, wie wir gleich auf den ersten Stufen der zweiten Treppe über Haufen von Steinen und Schutt gestolpert sind.“
„Das ist richtig. Na — und? Was beweist das?“
„Es beweist, daß bei meinem ersten Besuch der Zugang zu dieser Treppe noch verbaut war und niemand etwas von ihr ahnte. Später muß ein Stück Mauer eingestürzt sein, und dadurch wurde die Treppe freigelegt. So etwas kommt auf dem Mont Saint-Michel immer wieder einmal vor. Auch die Krypta ist erst nach einem Einsturz dieser Art aufgefunden worden. Als wir nun vorhin auf dem Treppenabsatz ankamen, habe ich mich durch die neue Treppe täuschen lassen. Ich glaubte, es ginge zur Krypta erst einmal weiter hinunter. Und so sind wir hierher geraten.“
„Schön, aber diese Mauer wird ja nicht gerade heute eingestürzt sein, aus purer Liebenswürdigkeit gegen uns. Die neue Treppe und der Gang sind doch sicher längst bekannt. Wie ist es möglich, daß dein Vater, der über alle sensationellen Entdeckungen auf dem ,Mont‘ Bescheid weiß, dir nie davon erzählt hat?“
„Weil der Gang eben noch nicht entdeckt worden ist! Seit dem Einsturz ist
Weitere Kostenlose Bücher