Der versunkene Wald
Gang sozusagen verstopft, der Luftzug ist unterbrochen, und weil die Luft ja elastisch ist, geht die Bewegung jetzt in entgegengesetzter Richtung vor sich. Darum konnten wir, noch ehe das Wasser in den unteren Gang stürzte, schon sehen, daß der Rauch nicht weiter abzog.“
„Großartig!“ rief Suzanne. „Mit zwei so gescheiten Jungen wie euch bekommt man zuletzt alles heraus. Vielleicht könnt ihr mir nun auch noch sagen, warum wir fast vierundzwanzig Stunden geschlafen haben?“
„Fast vierundzwanzig Stunden?“ fragte Raymond. „Genau gesagt: von Dienstag mittag bis Mittwoch um elf. Als du aufwachtest, hast du auf die Uhr gesehen und geglaubt, es sei noch die Nacht von Dienstag auf Mittwoch. Dabei war es schon Mittwoch elf Uhr vormittags. Von da an waren wir in unserer Zeitrechnung um zwölf Stunden im Rückstand und haben, als wir herauskamen, den Sonnenuntergang für die Morgenröte gehalten.“
„Du hast recht“, sagte Jean. „Natürlich waren wir furchtbar müde, aber trotzdem ist es unbegreiflich, daß man so lange schlafen kann!“
„Und noch eins möchte ich wissen“, fuhr Suzanne fort. „Das interessiert mich am allermeisten. Wo sind wir?“
„Das wird sich morgen, sobald es hell ist, schon zeigen“, antwortete Pierre. „Für den Augenblick bin ich müde und leider auch hungrig. Wer schläft, der ißt, sagt das Sprichwort. Gute Nacht, alle miteinander!“
Die anderen streckten sich gleich ihm auf dem Boden aus, und bald waren sie eingeschlafen. Das Feuer sank langsam in sich zusammen, glomm noch ein Weilchen rötlich und erlosch. Aber die Kleider waren trocken, und es wehte kein Lüftchen; die Nachtkühle störte ihren Schlaf nicht.
IX. Kapitel
DIE ROBINSONS AM ÄRMELKANAL
Suzanne schlug die Augen auf und blickte, ohne sich zu rühren, dankbar in die milchige Helle, die sich um sie her breitete. Die Morgensonne erwärmte den dünnen Nebel. Ihr war, als habe sie mit ihren Gefährten in einem schimmernden Wattenest geschlafen.
Ihr Tatendrang erwachte. Sie setzte sich auf und versuchte, sich an alles zu erinnern, was hinter ihnen lag. Die Jungen schliefen noch fest. Wenn sie aufwachten, würden sie hungrig und durstig sein. Sie taten ihr leid, und ein mütterlicher Instinkt regte sich in ihr. Leise stand sie auf, zog aus dem Tornister die leere Feldflasche und ein Kochgeschirr aus Aluminium, dann schlich sie sich fort ins Ungewisse.
Wohl war der Nebel weniger dicht als gestern abend, und doch sah man nicht weit. Der Zufall kam ihr zu Hilfe. Sie erreichte bald einen natürlichen Pfad, der an einem Felsen hinabführte. Vorsichtig betrat sie ihn. Wahrscheinlich ging es hier zum Meer hinunter; sie hörte etwas wie sanftes Wellenplätschern an sandigem Ufer.
Weit brauchte Suzanne nicht zu gehen. Wenige Meter tiefer sprang aus einem Felsenspalt eine Quelle und füllte ein kleines Becken, bevor sie weiterfloß. Suzanne stillte ihren Durst, füllte die Feldflasche und kehrte um. Oben angelangt, fand sie sich nicht mehr zurecht, verlief sich im Gebüsch und traf auf eine Brombeerhecke voll süßer, saftiger Beeren. In wenigen Minuten war das Kochgeschirr bis zum Rande gefüllt, obwohl Suzanne schon während des Pflückens ihren Anteil im voraus verzehrte.
Aber allmählich überfiel sie leichte Unruhe. Wie sollte sie wieder zu den Jungen zurückfinden? Sie hatte die Richtung gänzlich verloren und konnte im Nebel nicht den kleinsten Anhaltspunkt entdecken.
Da erscholl ein Schrei, so nahebei, daß sie zusammenfuhr:
„Urra-a-uh!“
Der Lagerplatz lag nur wenige Schritte entfernt. Die Jungen hatten sich schon große Sorgen um sie gemacht. Sie empfingen Suzanne mit Jubel, und die Begeisterung wuchs, als sie sahen, was sie mitbrachte. Ein neues Farnkrautfeuer wurde entfacht, auf dem Boden einer Blechdose fanden sich sogar noch einige Löffel gemahlenen Kaffees. Auch ungezuckert schmeckte er ihnen prächtig. Über die Bitterkeit des Trankes trösteten sie die Brombeeren hinweg. Alle miteinander zogen aus, mehr davon zu pflücken.
Freilich ersetzte das alles nicht die kräftige Mahlzeit, die ihnen nottat. Es war höchste Zeit, daß sie einen bewohnten Ort fanden, endlich erfuhren, wo sie waren, und dann schleunigst nach Hause kamen. Im Augenblick konnten sie nur hoffen, daß ihre Eltern nicht alarmiert worden waren. Sie würden jetzt gerade noch Zeit genug haben, vor dem festgesetzten Termin, nämlich morgen, Freitag, heimzukehren. Dann konnten sie von ihrem Abenteuer berichten, ohne daß die
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