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Der versunkene Wald

Titel: Der versunkene Wald Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michel Rouzé
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Eltern sich zu sehr aufregten, weil sie ja alle miteinander heil und unversehrt wieder da waren.
    Aber leider würden Suzannes Eltern es mit der Angst bekommen haben, und bestimmt hatten sie auch die anderen Familien auf gescheucht. Arme Väter und Mütter! Welche Todesangst mußten sie jetzt ausstehen! Hoffentlich würden die Vorwürfe, die auf die Heimkehrer warteten, nicht allzu dicht hageln …
    Pierre war der Meinung, daß sie, soweit eine Orientierung überhaupt möglich war, landeinwärts gehen sollten, also entgegengesetzt der Richtung, die Suzanne in Küstennähe geführt hatte. Wenn sie da immer weitergingen, mußten sie ja irgendwann einmal zu einem Dorf oder wenigstens auf eine Straße kommen.
    Raymond war nicht damit einverstanden.
    „Wenn der Nebel nicht wäre, hättest du recht“, sagte er. „Aber solange wir nichts sehen, können wir uns nur ganz langsam vorwärts bewegen. Wir könnten in Schluchten geraten, in Löcher, an Stellen, wo es nicht weitergeht. Wir könnten uns in einer Waldgegend verirren und kilometerweit wandern müssen, ehe wir einem Menschen begegnen. Wenn wir statt dessen zur Küste hinuntergehen, brauchen wir weiter nichts zu tun, als uns immer am Strande zu halten. Ich habe keine Ahnung, wo wir sind, aber wenn alles mit rechten Dingen zugegangen ist, kann es nicht allzuweit vom Mont Saint-Michel sein. Am Ufer entlang kommen wir rasch vorwärts, und an der Küste trifft man mindestens alle drei Kilometer einen Badeort.“
    Pierre beugte sich der Ansicht des älteren, und Suzanne unterstützte ihn dabei. Es gelang ihr, den Felsenpfad wiederzufinden. Unterwegs tranken sie noch einmal von der Quelle und nahmen sich einen Wasservorrat mit: Man konnte nie wissen … Der Abstieg war nicht allzu beschwerlich; unten mündete der Pfad auf einen schönen Sandstrand.
    Seit Suzanne heute morgen hier gewesen war, hatte die Ebbe eingesetzt; keine Welle schäumte mehr gegen den Strand.
    „Gehen wir nach rechts oder nach links?“ fragte Jean. „Das ist gleich“, sagte Raymond. „Wie ihr wollt. Ich sehe keinen Grund, warum wir besser nach rechts oder besser nach links gehen sollten.“
    „Sag schon!“ drängte Pierre. „Ich habe keine Lust, es wie Buridans Esel zu machen, der zwischen seinen beiden Heubündeln verhungerte.“
    „Wir zählen ab!“ schlug Suzanne vor.
    Und während sie mit dem Zeigefinger einmal nach rechts, einmal nach links wies, begann sie aufzusagen:
„Geht ein Männchen über die Brück’,
    Hat ein Säckchen auf dem Rück’,
    Schlägt es gegen den Pfosten.
    Pfosten kracht,
    Männchen lacht,
    Tipp tipp tapp,
    Du bist ab!“
    Bei ,ab‘ zeigte der Finger nach rechts. Die Wahl wurde angenommen, und die Meerkatzen machten sich voll Hoffnung, bald am Ende aller ihrer Leiden zu sein, auf den Weg. Es ging am Fuße der Uferfelsen entlang, und sie wühlten mit großen Schritten den feinen, aber festen Sand auf. Hier unten am Strand war der Nebel dichter. Zuweilen tauchten die Felsen wie Gespenster aus dem ziehenden Grau empor.
    Sie mochten etwa zwanzig Minuten gegangen sein, als der kleine Jean strahlend ausrief:
    „Seht doch mal! Da sind Fußspuren im Sand!“
    Die Spuren waren frisch. Vor ganz kurzer Zeit mußten hier Menschen gegangen sein.
    „Hallo! — Hallo! — Hallooh!“
    Wenn Raymond diesen Ruf ausstieß, der gewöhnlichen Sterblichen galt (der Meerkatzenruf war strikt nur den Stammesmitgliedern Vorbehalten), war er weithin vernehmbar. Und doch antworteten die Leute, deren Tritte man im Sande verfolgen konnte, nicht.
    „Wir müssen schneller gehen“, schlug Jacques vor. „Dann werden wir sie schon einholen.“
    Trotz ihrer Müdigkeit gingen sie zum Laufschritt über. Die Fußspuren waren immer noch deutlich zu erkennen. Auch die fremden Spaziergänger blieben offenbar immer am Strand.
    Nach zehn Minuten Dauerlauf war noch immer nichts von ihnen zu entdecken.
    „Mir reicht es“, sagte Raymond. „Dabei geht einem ja die Puste aus.“
    Sie rannten trotzdem noch ein paar Minuten weiter. Die beiden Kleinen waren schon völlig außer Atem, als Ray mond, der an der Spitze lief, plötzlich haltmachte, verblüfft vor sich hinstarrte und einen Kraftausdruck: gebrauchte, was sonst nicht seine Gewohnheit war. Er stand wie angewurzelt. Dann brach er in ein schrilles Gelächter aus.
    „Was ist denn in dich gefahren, Raymond? Bist du verrückt geworden?“
    Raymond krümmte sich vor Lachen, als habe jemand einen kapitalen Witz gemacht. Er schluchzte geradezu. Sobald er

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